Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Warum Milliarden der afghanischen Zentralbank in der Schweiz blockiert sind

Eine Person hält ein Bündel afghanischer Banknoten in der Hand
Eine Person wechselt am 4. September 2021 nach der Machtübernahme der Taliban in der afghanischen Hauptstadt Kabul nach der Wiedereröffnung von Banken und Märkten in einer Wechselstube ein Bündel afghanischer Banknoten. Reuters / Stringer

Afghanische Staatsgelder in Höhe eines Viertels des BIP des Landes sind auf einem Schweizer Bankkonto eingefroren, das von einem in Genf ansässigen Fonds verwaltet wird. Der hat seit seiner Einrichtung vor über zwei Jahren keinen einzigen Dollar freigegeben, obwohl das Geld ein finanzieller Rettungsanker für die afghanische Wirtschaft sein könnte.

Als die Taliban am 15. August 2021 in die afghanische Hauptstadt Kabul einmarschierten, wusste Masuda Sultan, dass dies eine schlechte Nachricht war. Ihr war nur nicht klar, wie schlimm es wirklich werden würde.

Zunächst weigerte sich ihre Bank in den USA, Geld nach Afghanistan zur Finanzierung der Frauenhäuser zu überweisen, die ihre Nichtregierungsorganisation «Women for Afghan Women» zu dieser Zeit betrieb.

Bald darauf bat die Lehrergewerkschaft des Landes Sultan und andere Frauenrechtlerinnen um Hilfe, bei der Weltbank darauf hinzuwirken, Geld aus dem Treuhandfonds für den Wiederaufbau Afghanistans (Afghanistan Reconstruction Trust Fund, ARTF) freizugeben, um die Gehälter von 220’000 Lehrpersonen auszuzahlen, die seit Monaten auf ihre Bezahlungen warteten.

Dann erfuhr Sultan, dass die afghanische Zentralbank nicht mehr in der Lage war, auf ihre Reserven in Höhe von mehreren Milliarden Dollar zuzugreifen — eine wichtige Geldquelle, um die Wirtschaft am Laufen zu halten und eine galoppierende Inflation zu verhindern.

«Bei diesem Geld handelt es sich buchstäblich um den Reichtum der Armen in einem der ärmsten Länder der Welt», sagt sie gegenüber SWI swissinfo.ch und bezieht sich dabei auf die Reserven.

«Das ist einer der Gründe, warum ich mich für das Thema der eingefrorenen Gelder einsetzen wollte, auch wenn es in einigen Kreisen umstritten sein mag.»

Sie half im November 2021 die Kampagne «Unfreeze Afghanistan» ins Leben zu rufen, um die US-Regierung und Kreditgeber wie die Weltbank, die ihre Hilfen ausgesetzt hatten, zur Freigabe von Geldern zu drängen, damit afghanische Lehrkräfte bezahlt und wichtige öffentliche Dienstleistungen aufrechterhalten werden können.

Als die Taliban die Macht übernahmen, fror US-Präsident Joe Biden rund sieben Milliarden Dollar an Vermögenswerten ein, die von der Zentralbank Da Afghanistan Bank (DAB) in den USA gehalten wurden.

Die Hälfte des Geldes wurde anschliessend in einen Treuhandfonds, den Fonds für das afghanische Volk (Fund for the Afghan people), eingezahlt, um die humanitäre Hilfe im Land zu unterstützen und gleichzeitig sicherzustellen, dass die neuen Machthaber keinen Zugriff auf das Geld besassen.

Die anderen 3,5 Milliarden Dollar wurden zurückgehalten, um mögliche Entschädigungen in einem laufenden Gerichtsverfahren gegen die Taliban zu finanzieren, das von den Familien der Opfer der Anschläge vom 11. September 2001 in den USA angestrengt worden war.

Mehr
Geldwechsler mit einem Bündel Banknoten in Kabul, Afghanistan

Mehr

Der Weg der Afghanistan-Milliarden nach Genf

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Wie gelangten 3,5 Milliarden Dollar, die dem afghanischen Volk gehören, in einen Schweizer Treuhandfonds? Und was soll nun mit dem Geld geschehen?

Mehr Der Weg der Afghanistan-Milliarden nach Genf

Der Fonds für das afghanische Volk hat seinen Sitz in Genf und ist mit der Verwaltung der Gelder im Wert von derzeit 3,9 Milliarden US-Dollar beauftragt. Seit seiner Gründung im September 2022 hat er jedoch noch nichts davon ausgezahlt.

Der Stiftungsrat, dem zwei Afghanistan-Experten, ein Beamter des US-Finanzministeriums und eine Schweizer Diplomatin angehören, hat nicht öffentlich bekanntgegeben, wie er die Gelder zu verwenden gedenkt oder ob sie in der Schweiz verbleiben werden.

Aber da humanitäre Spenderinnen und Spender müde werden, Geld nach Afghanistan zu senden, wird die Untätigkeit des Stiftungsrats zu einer Frage von Leben und Tod für die Menschen in dem krisengeschüttelten Land.

Frauen, die demonstrieren
Afghanische Frauen rufen am 28. Dezember 2021 während einer Kundgebung in Kabul, Afghanistan, Parolen, um gegen die von den Taliban auferlegten Einschränkungen für Frauen zu protestieren. Reuters / Ali Khara

Liquiditätskrise

Der Entscheid der USA, die Vermögenswerte der DAB einzufrieren, und der plötzliche Rückgang der internationalen Entwicklungshilfe haben die afghanische Wirtschaft schwer getroffen.

Die Zentralbank konnte Geschäftsbanken nicht mehr mit Bargeld versorgen. Die Afghaninnen und Afghanen eilten, um ihr Geld abzuheben und fanden die Geldautomaten leer vor.

Die Liquiditätskrise wurde so gravierend, dass die Vereinten Nationen (UNO) im Dezember 2021 damit begannen, echte Dollarnoten nach Kabul zu schickenExterner Link, um Soforthilfeprogramme zu finanzieren.

Externer Inhalt

Seit Beginn des UNO-Programms sind rund vier Milliarden US-Dollar per Flugzeug nach Afghanistan geschafft wordenExterner Link. Sie haben dazu beigetragen, die afghanische Wirtschaft zu stabilisierenExterner Link, wenn auch auf einem prekären NiveauExterner Link.

Nun schwindet dieser RettungsankerExterner Link, da die internationalen Geber ihren Schwerpunkt auf Krisen in andere Teile der Welt verlagern und ihre humanitäre Hilfe für das Land zurückfahren.

Und das, obwohl die Weltbank im Jahr 2023 schätzte, dass eine Verringerung der Bargeldlieferungen um 25 Prozent zu einem Rückgang des BIP führenExterner Link würde und eine grosse Anzahl von Familien zu drastischen Überlebensmassnahmen zwingen könnte, einschliesslich des Verkaufs von Töchtern in Kinderehen.

Eine Finanzierungslücke zwang das Welternährungsprogramm, seine Nothilfe für Afghanistan im Jahr 2023 zu kürzenExterner Link, die Lebensmittelrationen zu verkleinern und zehn Millionen Menschen die Unterstützung zu entziehen.

Im Jahr 2024 wurde weniger als die Hälfte des humanitären Aufrufs der Vereinten Nationen in Höhe von 3,1 Milliarden Dollar für dieses Jahr erfüllt, so dass eine Finanzierungslücke von 1,6 Milliarden DollarExterner Link verbleibt.

Die Vereinten Nationen gehen davon ausExterner Link, dass fast 15 Millionen Menschen – mehr als ein Drittel der afghanischen Bevölkerung – bis März 2025 unter akuter Ernährungsunsicherheit leiden werden.

Externer Inhalt

In einem SWI swissinfo.ch vorliegenden Brief an die Verhandlungsführenden der Vereinten Nationen, die sich im Juni 2024 mit Afghanistan befassten, forderte Sulaiman Bin Shah, der bis zur Machtübernahme durch die Taliban stellvertretender afghanischer Industrie- und Handelsminister war und heute eine Unternehmensberatung in Kabul leitet, die Rekapitalisierung der afghanischen Zentralbank unter Verwendung der in der Schweiz gehaltenen 3,5 Milliarden Dollar.

Das von mehreren führenden Vertretern der Wirtschaft und Zivilgesellschaft in Afghanistan mitunterzeichnete Schreiben schlägt vor, eine international anerkannte Wirtschaftsprüfungsgesellschaft mit der Überwachung aller Zahlungen der Zentralbank zu beauftragen und die Zinserträge aus den Reserven zu verwenden, um den internationalen Handel und Investitionen im Land erleichtern.

Bisher hat sich der afghanische Fonds nicht zu seinen Absichten geäussert und auch nicht zur Frage, ob er plant, in nächster Zeit Vermögenswerte an die DAB zurückzugeben.

«Ich denke, ein Grund für das Schweigen liegt darin, dass immer noch unklar ist, welche Rolle der Fonds spielen wird», sagt Graeme Smith, Analyst bei der Denkfabrik International Crisis Group. Die Taliban würden sich weigern, die Legitimität des afghanischen Fonds anzuerkennen und forderten die sofortige Rückgabe der Gelder an die afghanische Zentralbank, sagt er.

Der Fonds wurde jedoch so konzipiert, dass er einen langsamen Prozess und ein amerikanisches Vetorecht über die Gelder gewährleistet, um Schlagzeilen über die in US-Geldern schwimmenden Taliban zu vermeiden. «Man könnte sagen, dass der Fonds wie beabsichtigt so funktioniert, um das Problem aus den Nachrichten herauszuhalten.»

Politik geht vor Menschlichkeit

Shah Mohammed Mehrabi, eines der vier Stiftungsratsmitgliederdes afghanischen Fonds und Wirtschaftsprofessor am Montgomery College in den USA, erklärte sich zu einem Interview mit SWI swissinfo.ch bereit.

Er stellte jedoch klar, dass er in seiner persönlichen Eigenschaft und nicht im Namen des Stiftungsrats sprach, der seine Entscheide einstimmig treffen müsse.

Mehrabi, der auch Mitglied des Leitungsgremiums der afghanischen Zentralbank ist, hat in der Vergangenheit dafür plädiertExterner Link, die Gelder in ordnungsgemäss überwachten Tranchen zurückzugeben, um die afghanische Wirtschaft zu stabilisieren.

Dies ist bisher noch nicht geschehen, weil weder die USA noch ein anderer Staat die Taliban als rechtmässige Regierung Afghanistans anerkannt hat, so Mehrabi. «Das ist der Hauptgrund, warum sich auf unserer Seite nicht viel getan hat», sagt er.

Es habe auch einige Zeit gekostet, die Stiftung aufzubauen und erforderliche Strukturen und Compliance-Verfahren einzurichten. Der Stiftungsrat musste zunächst eine robuste Führungsstruktur installieren.

Er schuf einen Rechtsträger in der Schweiz, verabschiedete eine Investitionsstrategie, entwickelte Richtlinien für das Risikomanagement, klärte, wie Anbieter zu überprüfen sind, und erarbeitete Compliance-Verfahren für Themen wie Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung, sagte er.

Mehr
Newsletter sobre a política externa

Mehr

Unser Newsletter zur Aussenpolitik

Die Schweiz in einer Welt, die sich bewegt. Beobachten Sie mit uns die Schweizer Aussenpolitik und ihre Entwicklungen – wir liefern die Vertiefung dazu.

Mehr Unser Newsletter zur Aussenpolitik

Nun sei der Fonds technisch in der Lage, gezielte Auszahlungen vorzunehmen, so Mehrabi. Der Stiftungsrat habe sich darauf geeinigt, keine Gelder für humanitäre Hilfe zu verwenden, um die Reserven zur Stabilisierung der Preise und Wechselkurse einsetzen zu können.

Da die Bargeldtransporte der Vereinten Nationen abnehmen, könnte eine Dollarknappheit die Inflation in die Höhe treiben und solche Finanzspritzen erforderlich machen.

Doch bevor das Vermögen freigegeben werden kann, sind noch erhebliche Hindernisse zu überwinden, die mit der politischen Frage der Anerkennung zusammenhängen. Für den Stiftungsrat ist entscheidend, dass die Zentralbank verhindert, dass die Gelder für Geldwäsche oder Terrorismusfinanzierung verwendet werden, so Mehrabi.

Um dies zu gewährleisten, sei ein gewisses Engagement und eine technische Schulung des Zentralbankpersonals in Afghanistan erforderlich. Doch die internationale Isolation der Taliban habe solche Schritte behindert.

Die Rückgabe der eingefrorenen Gelder wird auch durch eine Meinungsverschiedenheit zwischen den Taliban und den USA über die Ernennung des Leiters der DAB verzögert. Das Regime ernannte 2021 einen von den USA und der UNO sanktionierten Beamten zum amtierenden Gouverneur und ersetzte ihn im Juli durch einen anderen sanktionierten Beamten, Noor Ahmad Agha.

«Ich denke, die Taliban müssen sich ändern», sagt Masuda Sultan. Sie ist zunehmend frustriert über die Weigerung der Führung, internationalen Forderungen nach dem Schutz der Frauenrechte zuzustimmen, sowie über die Ernennung von Agha, die das Leiden des afghanischen Volks fortsetze.

«Das Problem ist im Kern politisch», sagt sie über die eingefrorenen Gelder in der Schweiz und kommt damit auf die grundsätzliche Wahl zwischen Engagement oder Isolation zurück. «Solange wir die zugrundeliegenden politischen Fragen nicht lösen, gibt es keine Möglichkeit, dieses Geld zu verwenden.»

Editiert von Nerys Avery / vm, Übertragung aus dem Englischen mit der Hilfe von Deepl: Petra Krimphove

Dieser Artikel wurde vom Pulitzer Center on Crisis ReportingExterner Link unterstützt.

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft