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Was Israel der UNRWA im Gazastreifen vorwirft

Vertriebenes palästinensisches Mädchen im Lager Khan Yunis in Gaza
Die UNRWA sagt, sie habe gerade noch genug Mittel für einen weiteren Monat, und warnt vor einer drohenden Hungersnot im Gazastreifen, wo die offizielle Zahl der Todesopfer 30'000 überstiegen hat. KEYSTONE

Der Druck zur Auflösung des UNO-Palästinenserhilfswerks nimmt zu. Israel wirft der UNRWA vor, mit der islamistischen Hamas zusammenzuarbeiten, und Geberländer wie die Schweiz halten die Mittel für das Hilfswerk zurück. SWI swissinfo.ch schaut sich die Vorwürfe genauer an.

Parallel zum 55. Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen in Genf hielt UN Watch, eine pro-israelische Schweizer NGO, die das UNO-System beobachtet, ein Gipfeltreffen in der Nähe ab. Auf der Tagesordnung stand nur ein Thema: die Ersetzung der UNRWA, der wichtigsten humanitären Organisation, die in Gaza Hilfe leistet.

Seit den Hamas-Anschlägen auf Israel am 7. Oktober 2023 sieht sich die UNRWA mit einer Reihe schädlicher Behauptungen konfrontiert. Die schwerwiegendste von ihnen wurde Ende Januar bekannt: Israel wirft zwölf Mitarbeitenden des Hilfswerks vor, an den Anschlägen beteiligt gewesen zu sein. Die UNRWA hat die Verträge der Mitarbeitenden sofort gekündigt und die UNO hat eine Untersuchung eingeleitet.

Obwohl Israel den Vereinten Nationen noch keine schriftliche Beweise für seine Anschuldigungen vorgelegt hat und die UNRWA die Behauptung zurückweist, Verbindungen zur Hamas zu unterhalten, mehren sich die Rufe, das Hilfswerk nicht mehr zu finanzieren.

«Die israelische Führung hat deutlich gemacht: Sie will, dass das Hilfswerk seine Arbeit einstellt», sagt Daniel Forti, ein leitender Analyst der NGO International Crisis Group.

Die Auflösung des UNO-Hilfswerks ist nun Teil des Plans Israels für die Verwaltung des Gazastreifens, sobald der Krieg mit der Hamas, der nach den Anschlägen vom 7. Oktober begann, beendet ist.

Die Anschuldigungen gegen die UNRWA hatten weitreichende Folgen: Mehrere der grössten Geldgeber des Hilfswerks stellten ihre Finanzierung ein.

Dem Hilfswerk, das mit einer beispiellosen humanitären Notlage in Gaza konfrontiert ist, fehlt nun etwa die Hälfte seines Budgets von 880 Millionen Dollar (774 Millionen Franken).

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Ist die UNRWA eine politische oder humanitäre Organisation?

Die UNRWA wurde 1949 von der Generalversammlung der UNO gegründet, um geflüchteten Palästinenser:innen humanitäre Hilfe bereitzustellen.

Sie bietet grundlegende Dienstleistungen wie z.B. medizinische Grundversorgung für rund 5,9 Millionen palästinensische Geflüchtete im Gazastreifen, im Westjordanland, in Ost-Jerusalem, Jordanien, Syrien und im Libanon.

Der Chef von UN Watch, Hillel Neuer, sieht die Organisation jedoch aus einem anderen Blickwinkel: «Der Zweck der UNRWA ist nicht humanitär, sondern politisch», schreibt er in einer E-Mail an SWI swissinfo.ch.

Der Wunsch, die UNRWA abzuschaffen, hänge mit der damit verbundenen politischen Symbolik zusammen, sagt Forti von der International Crisis Group.

«Für einige gilt die UNRWA als eine Art Garantie der internationalen Gemeinschaft, dass die Palästinenser:innen eines Tages das Recht haben werden, im Rahmen von Verhandlungen über eine Zwei-Staaten-Lösung in ihre Heimat zurückzukehren», sagt er. «Aus denselben Gründen sieht Israel die UNRWA als legitime Herausforderung für seine Staatlichkeit.»

Die Idee, die UNRWA aufzulösen – was nur die UNO-Generalversammlung kann – gewinnt an Boden. UN Watch behauptet, 12’000 Menschen hätten an ihrem eintägigen Gipfel online und persönlich teilgenommen. Le TempsExterner Link berichtet, dass die Anzahl Teilnehmer:innen am Veranstaltungsort dünn war. Laut Neuer hätten weiter mehr als 140’000 Menschen eine Online-Petition von UN Watch zur Abschaffung der UNRWA unterzeichnet.

Unterstützt UNRWA die Hamas?

Neuer und andere haben sich für das Ende der UNRWA eingesetzt, indem sie behaupteten, das Hilfswerk beherberge Terroristen. Israel behauptet, 10% der rund 13’000 Mitarbeitenden des Hilfswerks im Gazastreifen hätten Verbindungen zur HamasExterner Link, die von mehreren Ländern wie beispielsweise den Vereinigten Staaten als terroristische Organisation eingestuft wurde. Insgesamt beschäftigt die UNRWA über 30’000 Menschen in der Region.

Die Organisation hat Zweifel an dieser Behauptung geäussert. UNRWA-Chef Philippe Lazzarini sagt, seit seinem Amtsantritt 2020 habe er noch nie gehört, dass Israel Bedenken wegen seiner Mitarbeitenden geäussert hätte.

Das Hilfswerk teilt Israel jedes Jahr seine Liste der Mitarbeitenden mit. «Wenn wir die israelischen Behörden fragen, woher diese Zahl von 10% stammt und was die Beweise dafür sind, bekommen wir keine Antwort», sagte der Schweizer gegenüber Le TempsExterner Link.

Die israelische Botschaft in Bern teilte per E-Mail mit, dass Israel die Namen von «Hamas-Agenten», die für die UNRWA arbeiten, an das Hilfswerk weitergeleitet – nicht in letzter Zeit, sondern 2011 und 2012 – und dass das Hilfswerk keine Massnahmen ergriffen habe.

Ein im Februar veröffentlichter Bericht der US-Geheimdienste stellte fest, dass es an Beweisen für weitreichende Verbindungen der UNRWA zur Hamas mangle, berichtet das Wall Street JournalExterner Link.

Der Kontakt mit der Hamas, die den Gazastreifen seit 2007 kontrolliert, ist für die UNRWA als Anbieterin von Dienstleistungen für die Bewohner:innen unvermeidbar, sagt Forti.

Er fügt hinzu, dass das Hilfswerk sehr darauf geachtet habe, diese Zusammenarbeit auf eine rein technische Ebene zu beschränken, «um die Neutralität des Hilfswerks zu gewährleisten und sein Mandat zu schützen».

Lazzarini räumte in Le Temps ein, dass sein Hilfswerk in einem «extrem komplexen Umfeld arbeitet… in dem es schwierig ist, kein Risiko einzugehen».

Um in diesem Umfeld besser zurechtzukommen, ordneten die Vereinten Nationen einen Monat vor dem Bekanntwerden der Vorwürfe gegen die zwölf Mitarbeitenden eine unabhängige Untersuchung an, um die Einstellungsverfahren der UNRWA und die Reaktionen auf Fehlverhalten von Mitarbeitenden zu untersuchen. Ein Abschlussbericht wird im April erwartet.

Lehrt die UNRWA Antisemitismus?

Ein weiterer Vorwurf gegen die UNRWA lautet, dass die Schulen des Hilfswerks Gewalt fördern. In Bern, wo das Schweizer Parlament kürzlich einen Vorschlag zur Kürzung der Mittel für das Hilfswerk prüfte, beriefen sich Mitglieder der rechtsgerichteten Schweizerischen Volkspartei (SVP) auf Berichte von IMPACT-se, einer britisch-israelischen Beobachtungsstelle für das Bildungswesen, die der UNRWA seit langem vorwirftExterner Link, Hass gegen Israel zu lehren.

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«Was wir am 7. Oktober gesehen haben, steht in direktem Zusammenhang mit dem Lehrplan», sagte Marcus Sheff, Geschäftsführer von IMPACT-se, im Januar gegenüber dem US-Sender CNN.

In ähnlicher Weise behauptet UN WatchExterner Link, dass UNRWA-Lehrpersonen den Hamas-Angriff, bei dem 1200 Menschen getötet wurden, in einer Telegram-Chatgruppe feierten.

In seiner AntwortExterner Link erklärte das Hilfswerk, es sei unmöglich zu überprüfen, ob alle 3000 Mitglieder des Chats UNRWA-Mitarbeitende waren.

Lazzarini hat bereits früher behauptet, dass UN Watch und IMPACT-se Desinformationen verbreiten.

Jo Kelcey, eine Postdoktorandin an der Libanesisch-Amerikanischen Universität in Beirut, die ihre Doktorarbeit über das UNRWA-Bildungsprogramm geschrieben hat, behauptet, dass die Berichte dieser Gruppen «eher von Polemik als von Forschung geprägt sind».

Sie weist darauf hin, dass eine unabhängige Überprüfung von Schulbüchern, die 2021 vom Georg-Eckert-Institut in Deutschland durchgeführt wurde, ergab, dass Behauptungen von IMPACT-se «übertriebene Schlussfolgerungen enthalten, die auf methodischen Mängeln beruhen».

Die UNRWA-Schulen, in denen rund 540’000 palästinensische Kinder in der Region unterrichtet werden, verwenden die Lehrbücher der Gastländer und unterrichten nach einem anerkannten Lehrplan.

«Es ist wahrscheinlich der am besten untersuchte und evaluierte Lehrplan der Welt – die Anzahl der Studien und Überprüfungen übersteigt alles, was ich bisher gesehen habe», sagt Kelcey.

Einige Studien haben jedoch auch Probleme aufgezeigt. So stellte das Georg-Eckert-InstitutExterner Link fest, dass die von der UNRWA verwendeten Bücher zwar die Unesco-Standards für politische Bildung und Menschenrechte einhalten, einige von ihnen jedoch antisemitische Darstellungen enthalten.

Das UNO-Hilfswerk hat erklärtExterner Link, dass es sich um Probleme kümmert, die in der Vergangenheit aufgezeigt wurden, und die Schulinhalte regelmässig überprüft.

Spielendes Mädchen im Hof einer vom UNRWA betriebenen Schule im Gazastreifen
Seit den Anschlägen auf Israel am 7. Oktober sind die UNRWA-Schulen im Gazastreifen zu provisorischen Unterkünften für intern vertriebene Palästinenser:innen geworden. KEYSTONE

Der grösste Teil der Mittel des grössten Gebers der UNRWA, der Vereinigten Staaten, fliesst in die Bildung. Die USA gehörten zu den Geberländern, die in den letzten Wochen die Mittel für das Hilfswerk ausgesetzt haben.

Könnten andere Hilfsorganisationen die UNRWA ersetzen?

Die UNRWA, so Neuer gegenüber SWI swissinfo.ch, könnte «allmählich durch andere UNO-Organisationen ersetzt werden, zum Beispiel durch jene, die sich aktuell um die humanitären Bedürfnisse von mehr als 20 Millionen Menschen im Sudan kümmern».

Wer so argumentiert, missverstehe die Rolle der UNO-Organisationen, sagt Kelcey: Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR, das oft als Ersatz für die UNRWA genannt wird, hat kein Mandat, in besetzten Gebieten zu arbeiten oder umfassende Gesundheits- und Bildungsdienste anzubieten.

«Es ist kein vergleichbarer Ersatz», stimmt Forti zu. «Die UNRWA spielt im Moment eine unschätzbare Rolle für die humanitäre Hilfe.» Eine erhebliche Einschränkung der Tätigkeit des Hilfswerks würde seiner Meinung nach das Risiko der Instabilität in der gesamten unmittelbaren Region erhöhen.

Weiter wäre eine Abschaffung der UNRWA nicht einmal im Interesse Israels, fügt er hinzu, da es die Grundversorgung der palästinensischen Geflüchteten garantieren müsste, die das Hilfswerk derzeit anbietet.

Im Gazastreifen, wo über zwei Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, hat die UNRWA nach eigenen Angaben gerade noch genug Mittel für einen weiteren Monat und warnt vor einer drohenden Hungersnot im Gebiet.

Die Schweiz, das neuntgrösste Geberland der UNRWA (nach Zahlen von 2022), hält 20 Millionen Franken zurück, bis die Ergebnisse der UNO-Untersuchung und der unabhängigen Überprüfung vorliegen.

«Es ist sehr schwer, sich diese Region, aber auch diesen spezifischen Moment, ohne die UNRWA vorzustellen», sagt Kelcey. «Es ist schwer vorstellbar, wie viel schlimmer es wäre, wenn das Hilfswerk nicht weiterarbeiten könnte.»

Geberländer wie Irland, Belgien, Spanien, Norwegen und Kuwait finanzieren das Hilfswerk weiterhin und bekräftigen ihr Vertrauen in die Organisation – ein Zeichen, das die Forscherin als hoffnungsvoll betrachtet.

Editiert von Virginie Mangin/livm/ac, Übertragung aus dem Englischen: Claire Micallef

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