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Wie die Schweiz einen mutmasslichen Drahtzieher des Völkermords in Ruanda entkommen liess

Kabuga mit Gesichtsmaske
Die Anwälte von Kabuga, hier bei seinem ersten Auftritt vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, argumentierten erfolgreich, dass er aufgrund seiner Demenz nicht verhandlungsfähig sei. UN-MICT/ICTY

1994 versäumte es die Schweiz, den als "Financier" des Völkermords in Ruanda bekannten Mann auf Schweizer Boden zu verhaften. Während in Bern die Arbeiten an einem Bericht zur Aufarbeitung der damaligen Ereignisse anlaufen, beleuchtet SWI swissinfo.ch den Fall von Félicien Kabuga und dessen Folgen 30 Jahre später.

25 Jahre lang war Félicien Kabuga auf der Flucht. Während eines Grossteils dieser Zeit war auf ihn ein Kopfgeld von 5 Millionen Dollar (4,5 Millionen Franken) durch die USA angesetztExterner Link, nachdem ich der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda (ICTR) beschuldigt hatte, 1994 zum Völkermord an der Volksgruppe der Tutsi angestiftet zu haben.

Als er 2020 in Frankreich verhaftet wurde, war Kabuga bereits weit über achtzig Jahre alt. Im vergangenen Jahr erklärten ihn die Richter in Den Haag für nicht mehr fähig, sich wegen Völkermords und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht zu verantworten, und beendeten damit ein lang erwartetes Verfahren gegen ihn.

Doch Kabugas Geschichte hätte auch eine andere Wendung nehmen können. Im Juli 1994, als sich der Völkermord seinem Ende näherte, reiste Kabuga mit einem Visum in die Schweiz ein. Vier Wochen später schob ihn die Schweiz aus bis heute ungeklärten Gründen nach Zaire ab, der heutigen Demokratischen Republik Kongo. Dort verschwand er.

«Ein Grund, warum sich Kabuga so lange der Justiz entziehen konnte, ist die Schweiz», sagt die grüne Nationalrätin Christine Badertscher. «Die Schweiz hätte 1994 sehr wahrscheinlich die Möglichkeit gehabt, ihn zu verhaften.»

Fahndungsplakat
Während seines Vierteljahrhunderts auf der Flucht soll Kabuga unter anderem in Deutschland, Kenia und Zaire gesehen worden sein. UN-MICT/ICTY

Nun wird die Schweiz die Affäre neu aufrollen. Im Februar stimmte das Parlament Badertschers Antrag zuExterner Link, dass die Regierung in einer detaillierten historischen Analyse die Rolle der Schweiz in diesem Fall klären soll. Sie hat dafür zwei Jahre Zeit.

Macheten und Propaganda

Anfang der 1990er-Jahre war Kabuga ein wohlhabender und gut vernetzter Angehöriger der Mehrheitsethnie der Hutu in Ruanda.

Durch die Heirat zweier seiner Töchter mit den Söhnen von Präsident Juvénal Habyarimana – ebenfalls ein Hutu – wurde Kabuga Teil des inneren Kreises des Präsidenten und übte politische Macht aus, ohne eine offizielle Rolle in der Regierung zu spielen, sagt César Murangira, Präsident der Organisation der Opfer des Völkermords Ibuka Suisse.

Das Morden begann am 7. April 1994, einen Tag nach der Ermordung Habyarimanas. Hutu-Extremisten im politischen und militärischen Establishment machten die Tutsi-Minderheit für dessen Tod verantwortlich und organisierten tödliche Angriffe gegen die Tutsi. Kabuga war gemäss Anklagen des ICTR von 1998 und 2011Externer Link einer dieser Extremisten.

«Er wurde als ‹Financier› des Völkermords bezeichnet», erklärt Murangira. «Er gehörte zu der Gruppe von Personen, die den Völkermord planten und die Miliz mit den materiellen und ideologischen Mitteln versorgten, um ihn durchzuführen.»

Im April 1994 war Kabuga an der Gründung des Fonds National de Défense (FDN) beteiligt, aus dem Waffen und Munition für die Interahamwe beschafft wurden, die an den Morden beteiligte Jugendmiliz der ruandischen Regierungspartei. Als Vorsitzender des FDN-Komitees sammelte Kabuga wiederholt Spenden für den Fonds.

Über seine Firma Kabuga ETS importierte er auch Macheten und verteilte sie an die Interahamwe, die damit in Gisenyi im Westen Ruandas Gräueltaten verübten. Darüber hinaus stellte er Uniformen und Fahrzeuge zur Verfügung, um Waffen und die Miliz zu den Tatorten zu transportieren.

Das ICTR beschuldigte Kabuga auch der Propaganda. Über den berüchtigten Radiosender RTLM (Radio-Télévision Libre des Milles Collines), den er 1993 mitbegründet hatte, hätten Kabuga und seine Mitstreiter der Verbreitung von Anti-Tutsi-Botschaften zugestimmt, mit dem Ziel, diese in Ruanda auszurotten.

Viele Historiker:innen sind der Meinung, dass die Sendungen des Radiosenders dazu beitrugen, die einfache Hutu-Bevölkerung gegen die Tutsi zu mobilisieren, indem sie zum Hass aufstachelten und manchmal sogar die Namen der Zielpersonen nannten.

Zwei Männer vor Gericht
Ferdinand Nahimana (links) war einer von Kabugas Mitarbeitern bei RTLM und fungierte als Direktor des Senders. Im Jahr 2003 wurde er vom Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda wegen Völkermords (später im Berufungsverfahren aufgehoben) und Anstiftung zum Völkermord verurteilt. AP Photo / Sukhdev Chattbar

Kurze Flucht in die Schweiz

Am 6. Juni 1994, als der Völkermord in vollem Gang war, beantragte Kabuga bei der Schweizer Botschaft in Kinshasa im benachbarten Zaire Visa für sich, seine Frau und seine sieben Kinder. Drei Tage später wurden die Visa ausgestellt.

Wie die Schweizer Regierung später im Parlament erklärteExterner Link, wurde dem Aussendepartement erst am 14. Juni «klar, wer Kabuga war», worauf die Behörden versuchten, sein Visum annullieren zu lassen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Kabuga die Dokumente jedoch bereits erhalten und war nach Ruanda zurückgekehrt.

Am nächsten Tag wies das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) das damalige Bundesamt für Migration an, Kabuga an der Einreise in die Schweiz zu hindern. Eine Einreisesperre wurde jedoch nie verhängt. Am 22. Juli, als bereits über 800’000 Menschen in Ruanda ermordet worden waren, reiste die Familie in die Schweiz ein.

Zwei Wochen nach ihrer Ankunft wurde in Paris Anklage wegen Völkermords gegen Kabuga erhoben. Am nächsten Tag stellte dieser in der Schweiz ein Asylgesuch.

Zu diesem Zeitpunkt hatten das Justiz- und das Aussenministerium von seiner Anwesenheit in der Schweiz Kenntnis erhalten. Das Justizministerium wies Kabuga und seine Familie sofort an, am Flughafen Genf ein Flugzeug nach Kinshasa zu besteigen.

Der Clan reiste am 18. August ab und liess die Schweizer Steuerzahlenden mit vielen unbeantworteten Fragen und einer Rechnung über 21’302 FrankenExterner Link zurück – Kosten für Flugtickets, die sie sich zu bezahlen geweigert hatten und die von den Behörden übernommen wurden, um eine schnelle Ausreise sicherzustellen.

Offizielle Gründe für die Nichtverhaftung

Warum Kabuga nie verhaftet wurde, ist eine zentrale Frage für die anstehende historische Aufarbeitung. Bisher hat die Schweizer Regierung dem Parlament nur unvollständige Antworten geliefertExterner Link.

Zum einen war die Rechtslage 1994 eine andere. Damals konnte eine Person, die der Verletzung der Genfer Konventionen für bewaffnete Konflikte beschuldigt wurde, nur nach dem Militärstrafgesetz angeklagt werden.

Dazu brauchte die Regierung einen «konkreten Verdacht, dass eine strafbare Handlung begangen wurde».

Doch obwohl Kabuga auf einer im Juni 1994 erstellten Liste «unerwünschter Personen» stand und der Regierung seine Beteiligung an RTLM und der Inhalt der ausgestrahlten Sendungen bekannt waren, argumentierte die Regierung, sie habe im Sommer 1994 keine Anhaltspunkte dafür gehabt, dass Kabuga «persönlich gegen die Genfer Konventionen verstossen» habe.

Zudem habe das Aussendepartement erst am 17. August, einen Tag vor der Ausweisung Kabugas, signalisiert, dass es die rechtlichen Möglichkeiten einer Verhaftung prüfen wolle – also zu spät.

Der Schweiz ist es gelungen, einige prominente Täter des Völkermords von 1994 zu verhaften. So verurteilte das Militärgericht 1999 den ruandischen Bürgermeister Fulgence Niyonteze gestützt auf das Militärstrafgesetz wegen Mordes, Anstiftung zum Mord und Kriegsverbrechen während des Völkermords.

Dies war der erste ruandische Fall, der vor einem ausländischen Gericht verhandelt wurde und mit einer Verurteilung endete. Seine 14-jährige Haftstrafe wurde 2001 vom Militärkassationsgericht bestätigt.

Alfred Musema, Direktor einer Teefabrik, der beschuldigt wurde, während des Völkermords an mehreren Übergriffen auf Tutsi beteiligt gewesenExterner Link zu sein, floh im Juli 1994 aus Ruanda und beantragte in der Schweiz Asyl. Die Schweiz verhaftete ihn im Februar 1995 und eröffnete ein Strafverfahren.

Ein Jahr später wurde er auf Ersuchen des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda (ICTR) nach Arusha (Tansania) überstellt, um sich vor dem ICTR zu verantworten. Im Jahr 2000 wurde er des Völkermords und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit für schuldig befunden und zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.

Der Schweizer Regierung wird jedoch vorgeworfen, andere Ruander:innen, die im Zusammenhang mit dem Völkermord gesucht werden, nicht verhaftet, angeklagt oder ausgeliefert zu haben.

Neben Félicien Kabuga ist dies Gaspard Ruhumuliza, ehemaliger Umweltminister. Er beantragte im August 1994 in der Schweiz AsylExterner Link, wurde aber wegen Verdachts auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit abgewiesen.

Die Schweiz eröffnete eine Strafuntersuchung, stellte diese aber im Mai 2005 ein. Im Jahr 2009 lehnte sie ein Auslieferungsgesuch Ruandas abExterner Link mit der Begründung, dass die Einhaltung der Menschenrechte nicht gewährleistet sei.

Oberst Pierre Célestin Rwagafilita, der zum engsten Kreis um Präsident Habyarimana gehört haben soll, reiste im Juni 1994 mit einem Visum in die Schweiz ein. Rwagafilita soll bei einem französischen Armeegeneral Waffen für die «Liquidierung» der Tutsi angefordertExterner Link haben.

Interpol stellte im Juli 1995 einen Haftbefehl gegen ihn aus, doch er soll die Schweiz damals bereits verlassen haben. Er wurde nie vor Gericht gestellt. Man nimmt an, dass er nicht mehr am Leben istExterner Link.

Die Schweiz hat den Völkermord im Jahr 2000 und das Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Jahr 2011 in ihr Strafgesetzbuch aufgenommen und 2001 die Konvention über den Internationalen Strafgerichtshof ratifiziert.

Diese Gesetzesänderungen, die es der Schweiz erleichtern, Personen zu verfolgen, die im Ausland schwere Verbrechen begangen haben, sind laut Badertscher auch eine Folge des Falls Kabuga.

Enge ruandisch-schweizerische Beziehungen auf dem Prüfstand

Kabugas Anwesenheit in der Schweiz gab auch nach seiner Ausreise Anlass zu Diskussionen. Ein Mitte der 1990er-Jahre vom Justizministerium in Auftrag gegebener Bericht – die bisher einzige offizielle Untersuchung des Falls Kabuga, die sich ausschliesslich auf die Visumsfrage konzentrierte – wies auf administrative Fehler hin: Die Einwanderungsbehörde hatte es versäumt, den Visumantrag gründlich zu prüfen oder ein Einreiseverbot auszusprechen.

Der damalige Chef des Migrationsamts, Alexandre Hunziker, musste sich dafür verantworten. Im Dezember 1994 wurde er im Alter von 59 Jahren «aus gesundheitlichen Gründen» vorzeitig pensioniert.

Hunziker soll das Visum für Kabuga persönlich ausgestellt und das Einreiseverbot nicht an die Grenzpolizei weitergeleitet haben. Er war mit Kabugas Schwiegersohn Fabien Singaye, der in der ruandischen Botschaft in Bern arbeitete, befreundet und hatte mehrmals mit ihm zu Abend gegessen. Singaye wurde im August 1994 wegen illegaler Spionage des Landes verwiesenExterner Link.

Dass Kabuga die Schweiz als Zufluchtsort wählte, überrascht nicht. Das Land unterhielt enge Beziehungen zu Ruanda, seit den 1960er-Jahren war es ein Schwerpunktland der schweizerischen Entwicklungszusammenarbeit.

Diese Beziehungen wurden nach dem Völkermord auf die Probe gestellt: Ein vom EDA in Auftrag gegebener Bericht von 1996 kam zum Schluss, dass die schweizerische Entwicklungszusammenarbeit vor April 1994 keine politischen Massnahmen ergriffen hatte, um die eskalierenden Spannungen abzubauen.

«Kabuga hier zu haben und seinem Fall wirklich nachzugehen, hätte vielleicht eine umfassende Diskussion über die Rolle der Schweiz in Ruanda ausgelöst», sagt die Historikerin Thanushiyah Korn von der Universität Basel.

Aber solange die Regierung den Schleier über ihren früheren Aktivitäten nicht lüfte, sei das alles nur Spekulation, fügt Korn hinzu, die derzeit die Handlungen der internationalen Geberländer im Vorfeld des Völkermords untersucht.

Mehr

Eine 30 Jahre währende Enttäuschung

Kabuga ist einer von vielen mutmasslichen Täter:innen des Völkermords, gegen die internationale Haftbefehle vorliegen und die es geschafft haben, der Justiz zu entkommen, sagt Murangira.

Einige sind immer noch auf der Flucht. Für die Opfer ist es ein schwerer Schlag, dass Kabuga so lange untertauchen konnte, nur um dann als nicht verhandlungsfähig eingestuft zu werden.

«Es ist eine Enttäuschung, die seit 30 Jahren anhält, weil die internationale Justiz völlig versagt hat», sagt Murangira, selbst ein Überlebender des Völkermords. «Die Zeit läuft nicht zugunsten der Opfer. Viele Überlebende und Zeugen sind inzwischen tot.»

In Bern erhofft sich Badertscher von der historischen Aufarbeitung eine «symbolische Wiedergutmachung» für den Umgang der Schweiz mit der Kabuga-Affäre.

«Was geschehen ist, lässt sich nicht mehr rückgängig machen», sagt sie. «Aber eine historische Aufarbeitung kann helfen, die Rolle der Schweiz zu klären – eine Aufarbeitung des Geschehenen, damit wir es besser verstehen können.»

Editiert von Virginie Mangin, Übertragung aus dem Englischen: Michael Heger

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