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Wie Russland die Schweiz an den Pranger stellt

Der russische Präsident Wladimir Putin
Für ihn ist die Schweiz ein "unfreundlicher Staat", da sie nach der Invasion der Ukraine Sanktionen verhängte: Der russische Präsident Wladimir Putin. Alexander Kazakov / Keystone SDA

Russische Behörden und staatliche Medien behaupten, dass die Schweizer Sanktionen gegen Russland und russische Vermögenswerte die Neutralität der Schweiz verletzen. SWI swissinfo.ch geht diesen Behauptungen nach und zeigt auf, dass die Schweiz seit langem Sanktionen gegen Russland verhängt.

Russische Medien kritisierten die Schweizer Sanktionen gegen Russland von Beginn des Kriegs gegen die Ukraine an mit dem Argument, die Schweiz verletze ihre Neutralität. Internationale Medien folgten diesem Beispiel.

«Die neutrale Schweiz schliesst sich den EU-Sanktionen gegen Russland an und bricht mit der Vergangenheit», berichtete ReutersExterner Link nur vier Tage nach der russischen Invasion in der Ukraine am 24. Februar 2022 und betonte die «scharfe Abweichung» von der traditionellen Aussenpolitik des Landes.

Am gleichen Tag erklärte Aussenminister Ignazio Cassis an einer Pressekonferenz in Bern, dass «wir uns in einer ausserordentlichen Situation befinden, in der ausserordentliche Massnahmen beschlossen werden könnten».

Warum hat die Schweiz Sanktionen gegen Russland verhängt?

Sergei Guriev, Dekan und Professor für Wirtschaftswissenschaften an der London Business School
Sergei Guriev, Dekan an der London Business School, ehemaliger Chefökonom der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung. CC BY 3.0 / Youtube

«Sanktionen sind keine Strafe – sie sind eine glaubwürdige Drohung. Dahinter steht die Idee, dass Staaten aus Angst vor Konsequenzen nicht gegen internationale Regeln und Gesetze verstossen», sagt Sergei Guriev, Dekan und Professor für Wirtschaftswissenschaften an der London Business School.

Sanktionen würden eingesetzt, um Verhalten zu ändern, Kriege zu verhindern und Verstösse gegen das Völkerrecht zu bestrafen, fügt der ehemalige Chefökonom der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) hinzu. Seit dem Einmarsch in die Ukraine hat sich die Schweiz nach mehreren Sanktionswellen an die Seite der Europäischen Union gestellt.

Bis April 2024 hat die Schweiz russische Vermögenswerte in Höhe von 5,8 Milliarden Franken eingefroren, gegenüber 7,5 Milliarden Franken Ende 2022. Der Rückgang ist laut dem Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) hauptsächlich auf den gesunkenen Marktwert der gesperrten Aktien und Finanzanlagen zurückzuführen.

Die Schweiz wurde von den USA kritisiert, zu wenig Sanktionen zu verhängen. Insgesamt wurden in den Sanktionsstaaten Vermögenswerte der russischen Zentralbank in der Höhe von 260 Milliarden Euro (243 Milliarden Franken) eingefroren.

Ziel war es, die russische Wirtschaft zu lähmen und die autokratische Herrschaft des russischen Präsidenten Wladimir Putin zu schwächen. Ob dieses erreicht wurde, ist allerdings fraglich.

Die russische Wirtschaft hat sich auf den Krieg eingestellt. In diesem Jahr wuchs die Wirtschaft nach offiziellen Angaben im ersten Quartal um 5,4% und im zweiten Quartal um 4%. «Ich habe keine Angst vor euren Sanktionen», sagte Putin und setzte den Einmarsch fort.

Guriev ist jedoch der Ansicht, dass die Sanktionen nach wie vor wirksam sind, da sie eine abschreckende Wirkung auf andere Staaten haben. «Andere Länder, welche die Kosten sehen, die Russland durch die Tausenden von Sanktionen auferlegt werden, werden sich vielleicht dagegen entscheiden, internationales Recht zu brechen», sagt er.

Ein Paar spaziert mit seinen zwei Kindern an einem H&M-Shop vorbei.
Der schwedische Modekonzern H&M hat seine letzten Filialen in Russland und Weissrussland geschlossen und damit seinen schrittweisen Rückzug aus beiden Ländern nach der Invasion in der Ukraine abgeschlossen. Keystone / Anatoly Maltsev

Sanktionen dienen auch ganz praktischen und konkreten Zwecken, wie Guriev betont. «Sie können Putins Ressourcen erschöpfen und seine Fähigkeit einschränken, militärische Operationen zu finanzieren, Söldner anzuwerben und neue Waffen zu entwickeln. Das aktuelle Ziel der Sanktionen ist es, Putins Wirtschaft zu beschränken und seine finanziellen und militärischen Möglichkeiten zu reduzieren.»

Wie reagiert Russland auf die Schweizer Sanktionen?

«Die Schweiz hat zum ersten Mal seit 1815 ihre Neutralität verletzt, indem sie Sanktionen gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin, Premierminister Michail Mischustin und Aussenminister Sergej Lawrow verhängt hat», schrieb das kremlnahe Netzwerk Sputnik vier Tage nach Kriegsbeginn.

Die Stimmung in Russland, dass die Schweiz ihre Neutralität verletzt habe, hält auch mehr als zwei Jahre nach dem Krieg an. Russische Medien und Politiker werfen der Schweiz eine Nato-freundliche Aussenpolitik vor.

Der russische Politologe Juri Swetow kritisierte die Teilnahme der Schweiz am «militärischen Schengen-System» als «Gipfel des Zynismus».

«Die von der Schweiz – und bis vor kurzem auch von Österreich – proklamierte Neutralität wird nun so verstanden: Man erfüllt, was die USA und die Nato verlangen, aber man wehrt sich, wenn solche Prinzipien auf Russland angewendet werden sollen», sagte Swetow in einer russischen Online-Sendung im August 2024.

Kreml-freundliche Fachleute argumentieren, dass die Sanktionen gegen Russland im Gegensatz zu denen gegen Nordkorea «willkürlich und absolut illegal sind und von verschiedenen Regierungen verhängt wurden».

Sie argumentieren, dass die Sanktionen gegen Nordkorea vom UNO-Sicherheitsrat beschlossen wurden, in dem sowohl Russland als auch die USA ein Vetorecht haben.

Konstantin Kossatschow, stellvertretender Sprecher des Föderationsrats
Konstantin Kossatschow, stellvertretender Sprecher des Föderationsrats (des Oberhauses des russischen Parlaments). Keystone / Vitaly Smolnikov

Die Sanktionen gegen Russland wurden von Ländern und nicht von der UNO verhängt. Im Mai erklärte Konstantin Kossatschow, stellvertretender Sprecher des Föderationsrats (des Oberhauses des russischen Parlaments), auf seinem Telegram-Kanal, sowohl Den Haag, wo der Internationale Gerichtshof seinen Sitz hat, als auch Genf hätten ihre Fähigkeit verloren, wirksame internationale Konventionen zu schaffen.

Im Juli verglich Putins Pressesprecher Dmitri Peskow die Türkei mit der Schweiz, die in den Augen Moskaus ihre Legitimität als Vermittler in einem Krieg verloren habe. Die Türkei sei zur «neuen Schweiz» geworden, weil «die alte den Weg des Kriegs eingeschlagen hat».

Wladimir Putins Pressesprecher Dmitri Peskow
Wladimir Putins Pressesprecher Dmitri Peskow. AFP / Sergei Bulkin

Aufgrund der wachsenden Unzufriedenheit zeigte Russland der Schweiz die kalte Schulter und lehnte mehrere Besuche ab. Am 20. August 2024 lehnte die russische Mission beim UNO-Sicherheitsrat eine Einladung der Schweiz zu einem inoffiziellen Besuch in Genf anlässlich des 75-jährigen Bestehens der Genfer Konventionen ab.

Die Ablehnung erfolgte, nachdem die Schweiz Russland nicht zu einer Friedenskonferenz über die Ukraine auf dem Bürgenstock in der Nähe von Luzern eingeladen hatte, mit der Begründung, dass Russland die Einladung nicht angenommen hätte.

Der Entscheid, Russland auszuschliessen, wurde sowohl innerhalb als auch ausserhalb der Schweiz kritisiert. «Wenn sie uns nicht sehen, dann ist das eben so», sagte Putin im Mai vor der Presse.

Wie reagiert die Schweiz auf die Vorwürfe Russlands?

«Die Neutralität im engeren Sinn, also das Neutralitätsrecht, wird von der Schweiz strikte eingehalten. Die Schweiz unterstützt keine Kriegspartei militärisch. Die Neutralität im weiteren Sinn, die Neutralitätspolitik, lässt mehr Flexibilität zu, wenn es um ausserordentliche Entwicklungen geht», schreibt Françoise Tschanz, offizielle Sprecherin des Schweizer Wirtschaftsministeriums und des SecoExterner Link, in einer Antwort auf eine E-Mail von SWI swissinfo.ch.

Und weiter: «Der militärische Angriff Russlands auf die Ukraine und die damit verbundenen Verletzungen grundlegender Normen des Völkerrechts sind in der jüngeren europäischen Geschichte beispiellos.»

Tschanz betonte, dass die Schweiz trotz der Sanktionen gegen Russland an ihrer Neutralität festhalte und die Übernahme der EU-Sanktionen nichts an diesem Status ändere.

Die Übernahme von EU-Sanktionen sei kein Automatismus. «Die Schweiz macht eine Einzelfallanalyse. Die Schweiz hat das Neutralitätsrecht im Russland-Ukraine-Konflikt seit der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 angewendet und tut dies auch während der aktuellen militärischen Intervention Russlands in der Ukraine.»

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Debatte
Gastgeber/Gastgeberin Giannis Mavris

Welche Zukunft hat das Schweizer Neutralitätsmodell?

Kann es in Zeiten der Blockbildung und des geopolitischen Antagonismus überhaupt einen neutralen Weg geben?

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Kann die Schweiz Sanktionen verhängen und gleichzeitig neutral bleiben?

Die Antwort ist Ja, sagen Fachpersonen gegenüber SWI swissinfo.ch. Die Behauptung, die Schweiz habe «zum ersten Mal seit 1815 ihre Neutralität verletzt, indem sie Sanktionen verhängte», ist falsch.

Die Schweiz hat eine lange Tradition, Sanktionen gegen Länder, Personen und Organisationen zu verhängen, sei es, dass sie sich den Sanktionen der EU anschliesst, sei es, dass sie Sanktionen des UNO-Sicherheitsrats mitträgt.

Das Embargogesetz aus dem Jahr 2003 regelt die Verhängung und Durchsetzung von Sanktionen und Embargos in der Schweiz.

Es ermöglicht der Schweiz, Massnahmen zu ergreifen, um die Einhaltung von Sanktionen der UNO, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) oder wichtiger Handelspartner wie der Europäischen Union sicherzustellen.

«Als UNO-Mitglied ist die Schweiz völkerrechtlich verpflichtet, vom UNO-Sicherheitsrat beschlossene Sanktionen umzusetzen. Der Bundesrat entscheidet jedoch von Fall zu Fall, ob die Schweiz von der EU beschlossene Sanktionen ganz, teilweise oder gar nicht übernimmt», so Tschanz weiter.

«Der Entscheid stützt sich auf aussenpolitische, aussenwirtschaftliche und rechtliche Kriterien. Das Embargogesetz bietet der Schweiz keine Rechtsgrundlage für eigene Sanktionen.»

Da das Embargogesetz der Schweiz keine Rechtsgrundlage für eigene einseitige Sanktionen bietet, kann sie nur im Einklang mit Beschlüssen der UNO oder wichtiger Handelspartner handeln.

«Sanktionen haben per Definition mit der Beurteilung von Verstössen gegen das Völkerrecht zu tun», sagt Guriev.

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Gegenwärtig wendet die Schweiz auf der Grundlage von Resolutionen des UNO-Sicherheitsrats Sanktionen gegenüber dem Irak, Nordkorea, dem Libanon (besonders gegenüber militanten Gruppen der Hisbollah), Somalia, der Zentralafrikanischen Republik, dem Jemen, Mali und Haiti an.

Im Einklang mit der EU verhängte sie Sanktionen gegen Myanmar, Simbabwe, Belarus, Guinea, Syrien, Russland, Burundi, Nicaragua, Venezuela und Guatemala.

Darüber hinaus kann die Schweiz auch auf Ersuchen einer Regierung Sanktionen verhängen. Dies war 2022 der Fall, als die moldauische Regierung die Schweiz ersuchte, sich den EU-Sanktionen gegen Organisationen und Personen anzuschliessen, welche die Souveränität der Republik Moldau bedrohen.

In gewissen Fällen setzt die Schweiz sowohl UNO-Resolutionen als auch EU-Sanktionen um., wie bei den Sanktionen gegenüber Sudan, Demokratische Republik Kongo, Iran, Libyen, Guinea-Bissau und Südsudan.

Die Schweiz kann auch Gelder und wirtschaftliche Ressourcen von Personen und Organisationen wie der palästinensischen Militärorganisation Hamas oder des Palästinensischen Islamischen Dschihad sowie von Personen mit Verbindungen zu diesen Organisationen sperren.

Ähnliche Massnahmen wurden gegen Personen ergriffen, die mit Osama bin Laden, Al-Qaida oder den Taliban in Verbindung stehen.

Darüber hinaus werden Sanktionen gegen bestimmte Personen verhängt, die beispielsweise mit der Ermordung des ehemaligen libanesischen Ministerpräsidenten Rafik Hariri im Jahr 2005 in Verbindung stehen.

Editiert von Virginie Mangin, Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub

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