Wie zwei Jahre Krieg in der Ukraine die Schweizer Politik geprägt haben
Auch die neutrale Schweiz wurde von den Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine tangiert. Wie hat sich das Land zwei Jahre nach dem russischen Angriff verändert?
Neutralität: Nur Debatten oder ein echter Wandel?
Als Russland am 24. Februar 2022 in die Ukraine einmarschierte, löste die Reaktion der Schweiz eine heftige Debatte über ihre traditionell überparteiliche Haltung aus: Nach anfänglichem Zögern schloss sich Bern den Sanktionen der Europäischen Union gegen Moskau an. Ein Schritt, der von einigen – und nicht nur in Russland – als Bruch mit der Vergangenheit angesehen wurde.
Dies geschah auch, als insbesondere neutrale Staaten in Europa unter Druck gerieten, sich der neuen Situation anzupassen und sich «der realen WeltExterner Link anzuschliessen». Finnland und Schweden haben inzwischen ihre Neutralität aufgegeben und sind der NATO beigetreten (siehe unten).
Zwei Jahre später ist die Debatte abgeflaut. Trotz der Übernahme der EU-Sanktionen und der Möglichkeit, Panzer an Deutschland zu verkaufen, hält die Schweiz an einer Politik fest, die sie seit 1815 verfolgt. In einer Umfrage von 2023 sprachen sich über 90% der Bevölkerung für die Neutralität aus, und auch wenn auf politischer Ebene über «aktive», «integrale» oder «kooperative» Varianten debattiert wird: Das wichtige Wort «Neutralität» steht weiterhin immer im Zentrum.
Möglicherweise kann die Bevölkerung sogar ihre bevorzugte Definition wählen: Ein rechtes Komitee hat die Volksinitiative für eine «immerwährende und bewaffnete Neutralität» lanciert, die so in der Verfassung verankert werden soll. Die Initiant:innen haben bis im Mai dieses Jahres Zeit, die nötigen 100’000 Unterschriften für eine Volksabstimmung zu sammeln.
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Militär: Annäherung an die NATO, Aufstockung des Budgets
Die schweizerische Neutralität geht mit einer Abneigung gegen Militärbündnisse einher. Aber auch hier hat sich die Debatte verschoben: Die Bereitschaft der Bevölkerung, der NATO beizutreten – was die Unterzeichnung eines kollektiven Verteidigungspaktes bedeuten würde – ist in den letzten zehn Jahren von 12% auf 31% gestiegen.
Mehr als die Hälfte der Öffentlichkeit befürwortet inzwischen eine engere Zusammenarbeit mit dem Verteidigungsbündnis. Und angesichts der Kritik an der militärischen Trittbrettfahrerei (der US-Botschafter in Bern, Scott Miller, bezeichnete die Schweiz als «Loch im NATO-Donut») hat die Regierung kürzlich eine solche engere Zusammenarbeit angekündigt – wenn auch noch zögerlich.
So oder so haben die letzten zwei Jahre das Profil der Schweizer Armee im Allgemeinen gestärkt. Nach Jahrzehnten, in denen die Armee nach den Worten von Verteidigungsministerin Viola Amherd «bis auf die Knochen abgespeckt» wurde, gab der russische Angriff den Anstoss zum Beschluss, die Militärausgaben bis 2035 auf 1% des BIP zu erhöhen. In den nächsten 12 Jahren soll die Armee insgesamt 32 Milliarden Franken erhalten.
Die Armee plant auch aufsehenerregende Übungen wie die Landung von Kampfjets auf der grössten Autobahn des Landes; solche Bilder hat es seit dem Kalten Krieg nicht mehr gegeben. Und obwohl die letzten Wochen von Medienberichten über Fehlkalkulationen im Armeebudget geprägt waren, ist klar, dass die Verteidigungsausgaben wieder fixer Teil der politischen Agenda sind.
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Sanktionen: Noch immer wird versucht, die Schlupflöcher zu schliessen
Seit der Übernahme des ersten EU-Sanktionspakets am 28. Februar 2022 hat die Schweiz bisher 11 Mal nachgezogen – zuletzt mit Massnahmen gegen den russischen Diamant- und Flüssiggassektor. Die Sanktionen betreffen nun verschiedene wichtige Schweizer Branchen, vor allem das Bankwesen und den Rohstoffhandel.
Die Behörden geben inzwischen an, dass bis Dezember 2023 rund 7,7 Milliarden Schweizer Franken an russischen Finanzvermögen in der Schweiz eingefroren wurden – eine im europäischen Vergleich beachtliche Zahl, aber nur ein Bruchteil der geschätzten 150 Milliarden Franken, die reiche Russen im Land deponiert haben.
An Kritik an der Umsetzung der Sanktionen mangelt es nicht: Der Druck der USA auf die Schweiz, intensiver nach russischen Vermögenswerten zu suchen, gipfelte im April 2023 in einem Ersuchen der G7-Staaten an die Schweiz, einer internationalen Sanktions-Taskforce beizutreten – was von Bern höflich abgelehnt wurde.
Diese Kritik ist seither «grösstenteils verschwunden», sagte ein Beamter des Schweizer Wirtschaftsministeriums diese Woche gegenüber Reuters, und andere Länder erkennen nun offenbar an, dass die Schweiz die Sanktionen ernst nimmt. Pünktlich zum zweijährigen Jahrestag des Grossangriffs teilte das Ministerium mit, dass es ein Spezialistenteam zur Untersuchung und Durchsetzung der Sanktionen eingerichtet habe.
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Mediation: Hoffnung auf einen Friedensgipfel in der Schweiz
Ein weiterer Aspekt der Schweizer Aussenpolitik, der in den letzten zwei Jahren unter Druck geraten ist, ist die Rolle der Schweiz als Vermittlerin und Schutzmacht. Im August 2022 lehnte Russland ein Angebot Berns zur Vertretung seiner Interessen in der Ukraine mit der Begründung ab, die Schweiz sei nicht mehr neutral.
Seither beschränken sich die diplomatischen Bemühungen auf die Ausrichtung einer Konferenz zum Wiederaufbau der Ukraine im Juli 2022 in Lugano (die bereits vor dem Krieg geplant war) und ein kürzliches Treffen nationaler Sicherheitsberater:innen am Rande des diesjährigen Weltwirtschaftsforums in Davos.
Ein Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski in Bern im vergangenen Monat brachte eine Neuigkeit: Die Schweiz beabsichtigt, einen hochrangigen Friedensgipfel zum Konflikt auszurichten. Über die Veranstaltung, die in Genf stattfinden soll, sind nur wenige Details bekannt. Russland hat eine Teilnahme jedoch bereits abgelehnt. Das Ziel wird also sein, einen möglichst grossen internationalen Konsens darüber herzustellen, wie ein Frieden aussehen könnte.
Die Schweiz ist daher bestrebt, möglichst viele aussereuropäische Mächte für die Teilnahme zu gewinnen. Aussenminister Ignazio Cassis hat sich kürzlich bei einem Besuch in Peking bei seinem chinesischen Amtskollegen für die Teilnahme eingesetzt, allerdings ohne Erfolg.
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Humanitäre Hilfe: Flüchtlinge aufnehmen, Hilfe senden
Die UNO schätzt, dass seit Februar 2022 6,3 Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen sind. In der Schweiz wurden rund 86’000 Anträge für den Sonderstatus «S» gestellt, den sie im März 2022 erstmals eingeführt hat. Dieser Status ermöglicht den Geflohenen zu arbeiten und von Integrationsmassnahmen wie Sprachkursen zu profitieren.
Für das Jahr 2024 rechnet das Staatssekretariat für Migration (SEM) mit weiteren 25’000 Antragsteller:innen aus der Ukraine. Von denjenigen, die bereits gekommen sind, sind rund zwei Drittel Frauen, viele von ihnen mit Kindern. Etwa 22% haben eine Arbeit gefunden.
Die Massnahmen im Zusammenhang mit dem S-Status machen auch den Löwenanteil der Schweizer Finanzhilfe für die Ukraine seit Beginn des Krieges aus: Zwischen Februar 2022 und Juli 2023 machten sie vier Fünftel der 2,03 Milliarden Franken aus, wie die Regierung mitteilte. Der Rest des Geldes fliesst in die Ukraine, als humanitäre Hilfe oder für Reparaturarbeiten. Feuerwehrautos und sogar Trams wurden bereits verschickt.
Längerfristig will Aussenminister Cassis auch einen grossen Beitrag zum Wiederaufbau der Ukraine leisten: Im Dezember war die Rede von sechs Milliarden Franken über ein Jahrzehnt. Da der Schweizer Haushalt jedoch auf ein Defizit zusteuert, steht die Regierung vor schwierigen Entscheidungen darüber, woher dieses Geld kommen soll.
Editiert von Virginie Mangin, Übertragung aus dem Englischen: Giannis Mavris
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