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Was macht Liechtenstein anders als die Schweiz in den Beziehungen zur EU?

Grenze Schweiz Liechtenstein
Grenzübergang zwischen Buchs im Kanton St. Gallen und Schaan im Fürstentum Liechtenstein. Keystone / Gian Ehrenzeller

Liechtenstein ist kein EU-Mitglied. Im Unterschied zur Schweiz ist der Zwergstaat aber dem Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) beigetreten. Das verändert die Ausgangslage erheblich.

Wir haben mit Christian FrommeltExterner Link, Direktor und Forschungsbeauftragter Politik des Liechtenstein-Instituts gesprochen.

Christian Frommelt
Christian Frommelt. Liechtenstein-Institut

swissinfo.ch: Was sind die Vor- und Nachteile des «Liechtensteiner Modells» im Vergleich zur Schweiz?

Was da nun Vorteile und was Nachteile sind, hängt stark von den politischen Präferenzen ab.

Persönlich würde ich den im EWR deutlich besser institutionalisierten Austausch mit der EU als Vorteil des EWR-Modells hervorheben. Dieser Austausch ist meist sehr sachorientiert und fördert das gegenseitige Verständnis und Vertrauen.

Im Vergleich dazu ist der Austausch zwischen der Schweiz und der EU deutlich geringer und stärker politisiert.

Das Fürstentum Liechtenstein ist ein 160 km2 umfassender Kleinstaat mit rund 38’000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Hauptort ist Vaduz.

Die Beziehungen zur Schweiz sind sehr eng. Zwischen den beiden Ländern besteht ein dichtes Netz von Verträgen, darunter der Zollvertrag von 1923. Mit diesem wurde Liechtenstein Teil des Schweizer Wirtschaftsraums. 1924 führte Liechtenstein zudem den Schweizer Franken als offizielle Währung ein.

Zwischen der Schweiz und Liechtenstein ist ein Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung in Kraft und es gilt der automatische Informationsaustausch in Steuersachen (AIA).

Viele Schweizer Grenzgängerinnen und Grenzgänger arbeiten in Liechtenstein, sie machen fast einen Viertel der Beschäftigten aus. Zudem sind rund 10% der liechtensteinischen Bevölkerung Schweizer Bürgerinnen oder Schweizer Bürger – Doppelbürgschaften nicht miteingerechnet.

Quelle: EDAExterner Link und Historisches Lexikon der SchweizExterner Link.

Welche Rolle spielt denn die EWR-Mitgliedschaft konkret?

Für Liechtenstein hat der EWR eine immense Bedeutung. Er verschafft den liechtensteinischen Unternehmen einen diskriminierungsfreien Zugang zum europäischen Binnenmarkt mit über 450 Millionen Konsumentinnen und Konsumenten.

Die EWR-Mitgliedschaft hat aber auch das politische System Liechtensteins geprägt und meiner Meinung nach die Eigenstaatlichkeit gestärkt. So konnte Liechtenstein durch die EWR-Mitgliedschaft beispielsweise die Abhängigkeit von der Schweiz verringern.

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Wie beurteilen Sie von aussen die Diskussionen um das geplante Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU? Können Sie den innenpolitischen Widerstand in der Schweiz nachvollziehen?

Ich kann den Widerstand verstehen, wenn es grundsätzlich um politische Werte geht und damit um die grundlegende Frage nach der Art der Beziehungen mit der EU.

Bei den konkreten institutionellen Fragen kann ich den Widerstand in der Schweiz aber nur schwer nachvollziehen. Die Beziehungen der EU mit Nichtmitgliedstaaten folgen nun einmal gewissen Prinzipien. Das ist auch nötig, um das gute Funktionieren dieser Beziehungen sowie generell der Europäischen Integration zu garantieren. Nach meiner Meinung ist die EU der Schweiz mit dem geplanten Rahmenabkommen sehr stark entgegengekommen.

«Die Souveränitätsthematik sollte nicht überbewertet werden.»

Bedeutet das Rahmenabkommen aus Ihrer Sicht einen Souveränitätsverlust der Schweiz?

Zweck des Rahmenabkommens ist es, die Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der EU zu stärken. Da diese primär auf EU-Recht basiert, ist ein gewisser Verlust an Eigenständigkeit der Schweiz unvermeidlich. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass das Rahmenabkommen der Schweiz ein Vetorecht gegen die Übernahme von neuem EU-Recht vorsieht.

Der Souveränitätsverlust lässt sich auch nicht durch den im Rahmenabkommen geregelten Zugang zum Entscheidungsprozess der EU kompensieren. Die Mitwirkung in den EU-Ausschüssen ist für Nicht-EU-Mitgliedstaaten sehr wichtig und trägt wesentlich zum guten Funktionieren der Beziehungen bei, souveränitätspolitisch bringt sie aber nicht viel.

Die Souveränitätsthematik sollte jedoch nicht überbewertet werden. Die EWR/EFTA-Staaten Island, Liechtenstein und Norwegen sind sehr auf die Wahrung ihrer Eigenständigkeit bedacht, leben aber sehr gut mit einem dem Rahmenabkommen ähnlichen institutionellen Modell für die Beziehungen mit der EU. Die EU ist kein Hegemon, welcher Nichtmitgliedern seine Politik aufzwingt.

«Die meisten Politikerinnen und Politiker erachten einen EU-Beitritt als nicht grössenverträglich.»

Das bilaterale Landwirtschaftsabkommen zwischen der Schweiz und der EU gilt auch für Liechtenstein. Welche Auswirkungen hätte das Rahmenabkommen auf Liechtenstein?

Aus der Sicht Liechtensteins ist es vor allem wichtig, dass die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU nicht erodieren. Dies hätte für Liechtenstein sicher negative Auswirkungen.

Liechtenstein ist von der Umsetzung bestimmter in das EWR-Abkommen übernommener Rechtsakte befreit, solange die Bestimmungen des Landwirtschaftsabkommens Schweiz-EU auf Liechtenstein angewendet werden. Würde dieses Abkommen wegfallen oder nicht mehr nachgeführt werden, müsste Liechtenstein eigenständig zwei unterschiedliche Regulierungsregime aufbauen – eines im Verhältnis zur Schweiz und ein anderes im Verhältnis zur EU. Das ist machbar, aber halt ein Mehraufwand.

Andererseits könnte das Rahmenabkommen die Attraktivität der EWR-Mitgliedschaft schwächen. Die hohe Unterstützung für den EWR in Liechtenstein ist auch auf das Fehlen konkreter Alternativen zurückzuführen. Ich könnte mir deshalb durchaus vorstellen, dass der eine oder andere politische Akteur in Liechtenstein im Falle eines Inkrafttretens des Rahmenabkommens einen Austritt aus dem EWR und eine Einbindung Liechtensteins in die bilateralen Abkommen der Schweiz mit der EU fordern könnte.

Wo steht die Debatte über einen allfälligen Beitritt Liechtensteins zur EU? Und was würde ein solcher für das Verhältnis zur Schweiz bedeuten?

Ein EU-Beitritt steht in Liechtenstein nicht zur Debatte. Die meisten Politikerinnen und Politiker erachten einen EU-Beitritt als nicht grössenverträglich. Dies gilt insbesondere für den Fall, wenn ein solcher Beitritt ohne die Schweiz erfolgen würde. In der Tat ist ein EU-Beitritt ohne die Schweiz angesichts der engen Verflechtung und des hohen Stellenwerts des Zollvertrags zwischen der Schweiz und Liechtenstein wenig realistisch.

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In der Schweiz wird häufig die direkte Demokratie als Argument gegen einen EU-Beitritt ins Feld geführt. Liechtenstein ist auch eine direkte Demokratie. Wie geht das mit der EWR-Mitgliedschaft zusammen?

Eine Besonderheit des direktdemokratischen Systems in Liechtenstein ist, dass Volksinitiativen zuerst auf ihre Verfassungsmässigkeit und die Vereinbarkeit mit internationalem Recht geprüft werden. Erst wenn diese Prüfung erfolgreich ist, können Unterschriften gesammelt werden.

Seit dem EWR-Beitritt wird auch die Vereinbarkeit mit EWR-Recht geprüft. Eine Abstimmung über eine Volksinitiative, die gegen EWR-Recht verstösst, ist also nicht möglich. Eine aktuelle Umfrage zeigt allerdings, dass die grosse Mehrheit der Liechtensteinerinnen und Liechtensteiner keine Einschränkungen der direkten Demokratie durch die EWR-Mitgliedschaft sieht.

Liechtenstein kennt eine spezielle Regelung zur Personenfreizügigkeit, nämlich eine Quotenregelung bei Wohnsitznahme. Wäre etwas Ähnliches auch für die Schweiz denkbar?

Die Sonderregelung geht zurück auf ein Protokoll zum EWR-Abkommen, welches im Falle eines EWR-Beitritts der Schweiz auch für die Schweiz gegolten hätte. Das Protokoll ermöglichte es Liechtenstein, die Zuwanderung nach Liechtenstein weiterhin nach eigenem Ermessen zu regeln.

«Empirische Analysen zeigen, dass das EWR-Recht etwa 20 bis 50 Prozent des geltenden EU-Rechts abdeckt.»

Die Sonderregelung ist für Liechtenstein unter Verweis auf den hohen Ausländeranteil von mehr als einem Drittel und die begrenzten räumlichen Ressourcen sehr wichtig. Ich glaube nicht, dass für die Schweiz eine ähnliche Lösung möglich wäre. Die Schweiz ist viel grösser als Liechtenstein. Entsprechend hätte eine solche Regelung für die Schweiz konkrete Auswirkungen auf das Funktionieren der Personenfreizügigkeit und auch viel eher eine – aus der Sicht der EU nicht willkommene – Signalwirkung für andere Staaten.

Was unterscheidet die aktuellen Beziehungen Liechtensteins zur EU noch von einer Vollmitgliedschaft?

Da sind einerseits die verschiedenen Politikfelder zu nennen, welche weder durch das EWR-Abkommen noch durch andere bilaterale Abkommen abgedeckt sind – so beispielsweise die Gemeinsame Agrarpolitik der EU oder die Zollunion der EU. Empirische Analysen zeigen, dass das EWR-Recht je nach Berechnungsgrundlage etwa 20 bis 50 Prozent des geltenden EU-Rechts abdeckt.

Zudem kennt die EU verschiedene Institutionen, wie zum Beispiel das Europäische Parlament, welche kein Pendant im EWR haben. Und schliesslich fehlt dem EWR die Symbolik einer supranationalen Gemeinschaft wie beispielsweise eine Fahne oder eine Hymne.

Wenn die Schweiz Ja zu Rahmenabkommen sagen würde, was wären noch die Unterschiede zwischen Liechtenstein und der Schweiz in den Beziehungen zur EU?

Das Rahmenabkommen regelt nur die institutionellen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU. Das heisst, dass die Schweiz weiterhin in verschiedenen Politikfeldern, die für Liechtenstein durch das EWR-Abkommen abgedeckt sind, über kein Abkommen mit der EU verfügt. Beispiele hierfür sind die Dienstleistungsfreiheit, vor allem die Finanzdienstleistungen, oder der Energiemarkt.

Institutionell verfügt das EWR-Abkommen mit der EFTA-Überwachungsbehörde über eine Institution, welche im Rahmenabkommen nicht vorgesehen ist. Das wiederum heisst, dass auch die institutionelle Integration des Rahmenabkommens nicht an das EWR-Abkommen heranreichen wird. Inwieweit dies aber tatsächlich eine Rolle spielt, lässt sich derzeit noch nicht abschätzen.

Das Interview wurde schriftlich geführt.

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