Zeitenwende in Wengen: Der Dornröschenschlaf ist vorbei

Es ist das traditionsreichste aller Skigebiete - aber bedeutet die Eröffnung des ersten Fünf-Sterne-Hotels grosse Veränderungen für das kleine Wengen? Eine Reportage.
Es ist ein später Donnerstagabend Ende Januar, und der «Downhill Only Club» (DHO) in Wengen ist fast bis auf den letzten Platz besetzt. Schätzungsweise 70 Personen, meist schon mit silbernem Haar, sitzen dicht an dicht im Vereinslokal des DHO, das sich nur ein paar Schritte vom Bahnhof befindet. Mit seinem rotem Teppich, den Pokalvitrinen und den Holzskis an den Wänden erinnert das «Clubhouse» an längst vergangene Zeiten. Alles redet über die bevorstehenden Jubiläumsfeiern zum 100. Geburtstag des DHO, obwohl heute der noch ältere Curlingclub von Wengen Ehrengast ist.
Der exzentrische Ski-Club mit seinen heute ca. 1200 Mitglieder wurde 1925 anlässlich eines Rennens gegen den Kandahar Club aus dem nahen Mürren in aller Eile gegründet. Der Name «Downhill Only Club» geht zurück auf die Zahnradbahn, die heute noch im Betrieb ist. Sie wurde 1893 gebaut, als es noch keine Skilifte gab. So hatten die ersten Skifahrer:innen in Wengen den einzigartigen Vorteil, dass sie nicht erst zu Fuss hochlaufen mussten, sondern gleich hinunterbrettern konnten – «downhill only» eben.

Ich werde zu einem der wenigen noch freien Plätze geführt, wo ich mich mit Norman Freund auf ein Bier verabredet habe. 94 ist der wackere Norman mittlerweile, fährt aber immer noch munter Ski. Er hofft, dass der untere Rücken – seine Problemzone – bis zum McMillan-Cup in der darauffolgenden Woche noch mitspielt. Der McMillan-Cup ist nur eines von mehreren Rennen, die vom DHO organisiert werden. Es ist ein Rennen mit Massenstart, alle Teilnehmenden fahren also gleichzeitig los. «Für die Kategorie Ü90 rechne ich mir durchaus Chancen auf den Sieg aus», gibt sich Norman zuversichtlich.
Der ehemalige IBM-Kadermann kommt seit 1961 regelmässig nach Wengen und ist seit 63 Jahren DHO-Mitglied. Seine Enkelkinder haben auf den etwas weniger steilen Anfängerpisten in Wengen Skifahren gelernt und sind heute im Club aktiv, wie schon Sohn und Tochter, heute beide in ihren 50ern. «Eigentlich hat sich nicht viel verändert», findet Norman. «Vielleicht weil man mit dem Zug anreisen muss. Der Geist ist derselbe geblieben.»

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Die Bahn ist für Wengen tatsächlich zentral. Wenn man nicht zu Fuss gehen will, ist sie das einzige Verkehrsmittel von Lauterbrunnen im Tal hoch ins Dorf, das auf 1275 m auf einer Sonnenterrasse liegt. 1300 Einwohner:innen leben hier, das Ortsbild schmücken verspielte, pastellfarbene Hotels aus der Belle Époque an bester Lage hoch über dem Lauterbrunnental mit seinen steilen Flanken.
J.R.R. Tolkien soll hier seine Inspiration zum Ort «Bruchtal» (Rivendell) gefunden haben. Nach dem Bau der Bahnlinie verwandelte sich das einst bescheidene Bergbauerndorf Wengen im frühen 20. Jahrhundert in einen der angesagtesten Nobelorte à la Gstaad und St. Moritz, der dann aber später von einfacher zugänglichen Ferienorten abgelöst wurde.

Der Rucksack der Geschichte
Am nächsten Morgen schnappe ich mir in der wärmenden Wintersonne mein Snowboard und besteige die gelbgrüne Wengernalpbahn für die nächste Etappe meiner Reise. Die längste durchgehende Zahnradbahn der Welt fährt hoch bis zur Kleinen Scheidegg, einem Pass auf 2060 m und auf der anderen Seite wieder hinunter bis zum Touristen-Hotspot Grindelwald. Noch weiter hinauf bringt einen die Jungfraubahn, die quasi als Nebenbahn von der Kleinen Scheidegg über mehrere Tunnel durch den Eiger hindurch zum höchsten Bahnhof Europas führt: zum Jungfraujoch, einem 3463 m hohen Sattel zwischen dem Mönch und der Jungfrau.

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Nach beiden drehe ich mich beim Aussteigen auf der Kleinen Scheidegg um. Von hier aus kann man über 200 Kilometer Pisten befahren, 50 Meter vom Bahnhof entfernt befindet sich die Talstation des Sessellifts Lauberhorn.
Von seiner Bergstation führen verschiedene rote und schwarze Pisten ins Tal, bei deren Anblick das Herz jedes Schneesportfans höherschlägt. Eine Piste führt beim Starthäuschen der Lauberhorn-Abfahrt vorbei – dem ältesten und immer noch längsten Skirennen im alpinen Weltcup, auf dessen Strecke es ob Wengen seit 1930 wegen saurer Muskeln und weicher Knie schon zu vielen Stürzen gekommen ist.
Ich wähle eine weniger anspruchsvolle Variante, kurve gemütlich hinunter zur Kleinen Scheidegg und stehe bald schon vor dem Hotel Bellevue des Alpes aus dem Jahr 1840. Der Anblick der historischen Fassade mit dem Eiger im Hintergrund hätte sich nicht mal Wes Anderson ausdenken können.
Hier habe ich schon bei einem früheren Besuch übernachtet und fand das Hotel fast schon grenzwertig asketisch, mit einer Klang-Mélange aus gepflegtem Jazz und knarrenden Holzdiehlen, wo Mobiltelefone unerwünscht sind und Kellner im weissen Jacketts einer distinguierten Kundschaft mit Rollkragenpulli und Sakko ein Menü mit Räucheraal und Schweinebauch servieren.
Ich fühlte mich voller Begeisterung in einen Krimi von Agatha Christie versetzt. Das historische Erbe ist im Bellevue sehr präsent. Als «Rucksack der Geschichte» bezeichnet es Andreas von Almen, der das Hotel von seiner Mutter Heidi übernommen hat. Wie sein Bruders Urs, der das Hotel Jungfrau Wengernalp etwas weiter unten betreibt, empfand auch Von Almen das, was so viele Hoteliers in Wengen verspürten: ein Gefühl der Verantwortung gegenüber einer romantischen Vergangenheit, einschliesslich der glorreichen Tage in den 1930er Jahren, als draussen noch ein Eisfeld war und britische Journalistinnen und Journalisten gleich die ganze Saison blieben, um nach Hause zu korrespondieren.

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Veränderung liegt in der Luft
Diesen Winter jedoch riecht es nach Veränderung. Ich schwinge auf der Piste nach Wengen hinunter und begebe mich zum Grand Hotel Belvedere, das im Dezember in einem sechsstöckigen Gebäude eröffnete und damit zum ersten Fünfsterne-Hotel im Dorf wurde (auch wenn dies vor der Einführung der Schweizer Sternebewertung 1979 schon andere für sich in Anspruch genommen haben).

Der ehemalige Wengener Hof, früher ein Familienbetrieb, wurde vom Genfer Designunternehmen Complete Works von Grund auf renoviert. Die gemusterten Spannteppiche und Vorhänge mit Blumenmotiven mussten weichen und wurden durch eine Einrichtung aus Lärchenholz, moosgrüne Polstermöbel und kunstvoll unpassend arrangierte Schwarzweissfotos von Szenerien in den Bergen abgelöst. Das Hotel gehört der französischen Hotel-Gruppe Beaumier, die auch in den französischen Alpen, auf Ibiza, in der Provence und an der Côte d’Azur diversen Hotels einen komplett neuen Anstrich verpasst hat.
Beaumier hat noch ehrgeizigere Pläne in Wengen – die Liegenschaft mit 36 Zimmern ist erst der Anfang. Im Mai wird ein noch beeindruckenderer zweiter Teil des Hotels weiter oben im Dorf eröffnet: 54 Zimmer im ehemaligen Grand Hotel Belvedere selbst – ein kleines Märchenschloss im Jugendstil, das 1912 eröffnet worden war.
Das Renovationsteam hat die Fresken und schnörkeligen Schnitzereien der Holzsäulen in der Eingangshalle restauriert, aber auch eine nachhaltige Holzpellet-Heizung eingebaut und einen minimalistischen Wellnessbereich mit Innen- und Aussenbädern aus Sichtbeton eingerichtet, was es in den Schweizer Alpen relativ selten gibt. Beaumier hat am Bahnhof auch das Hotel Silberhorn mit 70 Zimmern gekauft und plant, es in den nächsten Jahren zu renovieren. Das Hotel gehörte früher der Zinnert-Familie, die auch das Belvedere und den Wengener Hof betrieb.

Im alten Wengener Hof treffe ich Geschäftsführer Lorenz Maurer zum Abendessen, der mit seiner dicken Brille und dem schulterlangem Haar auch ein Creative Director aus dem Londoner Hipsterviertel Shoreditch sein könnte. Die weissen Tischtücher und alten Kronleuchter wurden entfernt und mit hellem Holz und kantigen, eisbergähnlichen Leuchten ersetzt. «Wengen ist ein bisschen wie Dornröschen, selbst für Schweizer:innen», erklärt Maurer. «Es bedeutet uns viel, muss aber aus seinem Dornröschenschlaf geweckt werden und ein neues Publikum ansprechen.»
Als hätte er auf sein Stichwort gewartet, erscheint ein Kellner (ein snowboardender Yogalehrer aus dem Baskenland) mit einem veganen Fondue aus Cashewnüssen, Kichererbsen und Miso, serviert mit neuen Kartoffeln, Zwiebelconfit und grüner Pepperoni. Später erklärt mir der junge tätowierte Küchenchef Will Gordon, dass zwar auch ein knuspriges Schnitzel oder ein Black-Angus-Burger auf der Karte stünden, dass er aber seinen eigenen veganen Lebensstils in seine Küche einfliessen lassen will, mit Gerichten wie einem fleischähnlichen Austernpilz-Shawarma und einer feinen panierten Miso-Aubergine.
Alles auf der Speisekarte kann innerhalb von 100 Kilometer beschafft werden, teilweise kommen die Rohstoffe und Zutaten von der Alp oder aus dem Wald in unmittelbarer Nähe. Das gilt auch für die etwas höhere gelegene Brasserie Belvedere, in der ein moderner Fünfgänger mit Schweizer Kaviar und Berner Rindfleisch serviert wird.
Vergangenheit und Zukunft im Spannungsfeld
Maurer und Gordon sind aber nicht die einzigen, die neue Ideen in Wengen umsetzen. Gleich daneben steht das Palace mit seinen blauen Fensterläden. Die beeindruckende alte Dame mit ihren 420 Betten gehörte einmal dem Club Med, war aber seit 2009 meistens geschlossen – die Analogie zum Horrorfilm «The Shining» drängt sich förmlich auf. Letztes Jahr wurde das Hotel schliesslich von einer neu gegründeten Gesellschaft übernommen. Sie will das Gebäude renovieren und neu eröffnen.
Etwas weiter weg soll für 85 Millionen Schweizer Franken das W5 Luxury Suite Hotel gebaut werden. Das Apart-Hotel wird über einen grosszügigen Wellness-Bereich verfügen, über den vor kurzem bei einer Aussprache unter Einwohner:innen im Dorfkino heftig gestritten wurde.
Ich treffe mich mit Tourismusdirektor Rolf Wegmüller, der festhält, dass es in der Region noch nie so viel Bewegung gegeben habe. Das liege zum einen daran, dass alte Bauten wieder vermehrt geschätzt würden, zum anderen aber vor allem an einer gestiegenen Nachfrage.
Insbesondere für die Sommersaison, die mit ihren Besucher:innenzahlen erstmals die Wintersaison überflügelte, haben Marketingkampagnen und Influencer-Posts geholfen, die Jungfrau-Region mit ihrer Postkartenkulisse zu bewerben, namentlich bei amerikanischen und asiatischen Gästen. Corona habe dazu beigetragen, dass Herr und Frau Schweizer wieder den Urlaub in heimischen Gefilden entdeckt haben, während vor allem in den Alpen der neue Reisetrend der «Coolcations», also schöne Ferien an kühleren Orten, spürbar angezogen habe.

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«In Wengen sind wir von Mai bis August ausgebucht. Fast die Hälfte der Gäste kommt heute aus den USA. Sie erwarten einfach ein gewisses Mass an Luxus», erklärt Wegmüller und weist darauf hin, dass die Wintersaison dann aber primär von britischen und Schweizer Gästen dominiert werde.
Natürlich führt dieser Wandel auch zu Spannungen. Während langjährige Hoteliers, mit denen ich spreche, das Grand Hotel Belvedere begrüssen, besteht im Dorf auch die Befürchtung, dass das familienfreundliche Wengen mit nur wenigen modernen Geschäften und einem bescheidenen Nachtleben für eine anspruchsvollere Klientel nicht bereit sei.
Schnell hört man das Argument «Wengen ist nicht Gstaad!», was gemäss Wegmüller heissen soll: «Wenn Sie einen Pelzmantel und ein teures Auto haben, lassen sie beides auf dem Parkplatz in Lauterbrunnen.»
Der regionale Zuwachs des Massentourismus› ist ein grösseres Problem, das gemeinsam mit dem Klimawandel vielen Leuten Angst macht. Andreas von Almen vom Bellevue des Alpes gehört zu den Hoteliers, die sich vehement gegen «Selfie-und-weg»-Tourist:innen wehren, die mit dem Zug zum Jungfraujoch hochfahren, aber nicht länger bleiben und damit in den Hotels oder Restaurants vor Ort auch kaum Geld ausgeben.

Aber in der vornehmen Blase von Wengen scheint der Massentourismus noch weit weg. Eines Abends werde ich mit Chips und Twiglets in der St. Bernard’s Church willkommen geheissen, der kleinen anglikanischen Kirche, die 1927 in der Nähe des Anfängerhangs gebaut wurde. Der redselige 77-jährige Kaplan Roger Scoones kommt schon seit 40 Jahren für jeweils zwei Wochen hierher (er war früher Pfarrer in der St-Mary’s-Kirche in Stockport) und ist genau so lange engagiertes DHO-Mitglied.
Am Abend davor hatte er im Clubhouse eine emotionale Rede gehalten und ein Aquarell gezeigt, das er vom früheren Vereinsquartier in einem Chalet gemalt hatte. Heute aber plagen ihn Sorgen wegen seines Jubiläumsgottesdienstes am kommenden Sonntag – die erste Fassung seiner Predigt hat er schon mal zerrissen. «Wie schaffe ich es, 100 Jahre Vereinsgeschichte, 40 Jahre persönliche Anekdoten und das Wort Gottes in so kurzer Zeit zusammenzubringen, dass es alle trotzdem rechtzeitig an die Bar schaffen?»
Ich für meinen Teil überlege mir, wie ich diesem legendärsten aller Orte zu einer Zeit und in seiner Geschichte gerecht werden kann, die alles andere als einfach zu definieren ist. Roger hilft mir dabei – und was er sagt, klingt wie ein Sprichwort, ja fast schon wie ein Gebet. «Möge sich hier etwas verändern», lässt er bedächtigt verlauten. «Aber bitte, Herr, ja nicht zu viel!»
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Übertragung aus dem Englischen von Lorenz Mohler/me

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