Platz frei für Frauen am gefährlichen Cresta Run
In dieser Wintersaison haben Frauen zum ersten Mal seit 90 Jahren wieder freien Zugang zum legendären Cresta Run in der Schweiz.
Der historische Skeleton-Eiskanal im Nobelort St. Moritz im Oberengadin gilt als berühmteste und gefürchtetste Schlittelbahn der Welt. Der Cresta Run war Jahrzehnte lang eine Männerbastion, bis der Club, der die Bahn betreibt, 2018 entschied, Frauen wieder zuzulassen. Allerdings ist dies erst ein vorläufiger Entscheid. Nach einer Probezeit von zwei Jahren werde man weitersehen, erklärt Clubsekretär Gary Lowe.
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Frauen können das auch
Bis in die 1920er-Jahre hatten Frauen sich auf Augenhöhe mit den Männern messen dürfen; danach war ihre Teilnahme als medizinisch gefährlich eingestuft und untersagt worden. In den letzten Jahrzehnten hatten Frauen pro Saison an einem einzigen Tag, dem Ladies› Day, auf dem unteren Teil der Bahn mit dem Skeletonschlitten antreten dürfen.
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Pionierinnen am Cresta Run
Tödlich
Der Cresta Run wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts zum ersten Mal gebaut, aus Natureis wie heute noch. Kopf voran und auf dem Bauch liegend rasen die Athletinnen und Athleten auf dem kleinen Schlitten, dem Skeleton, die Bahn hinunter, wobei sie Spitzengeschwindigkeiten bis gut 130 km/h erreichen.
Das Skeleton-Rennen auf dem Cresta Run ist eine der letzten echten Amateursportarten und Vorläufer der olympischen Wettkampfdisziplin Skeleton. Der Cresta Run war für die Entwicklung dieser Sportart von entscheidender Bedeutung. 1928 und 1948 stand der Männer-Skeleton auf dem Programm der Olympischen Spiele in St. Moritz. Dann wurde die Disziplin fallengelassen und tauchte erst bei den Olympischen Spielen in Salt Lake City 2002 wieder auf, als Männer- und Frauen-Wettkampf.
Die olympische Version wird in einem Eiskanal praktiziert und erfordert nicht die spezielle Lenktechnik, die es für die kurvenreiche Cresta-Bahn braucht. Im Cresta Run sind die Kurven nicht so stark überhöht wie bei einer olympischen Bahn, und das bedeutet, dass Fahrerinnen und Fahrer, die von der richtigen Spur abkommen, aus der Bahn heraus geschleudert werden können.
Beim Betreten des Clubhauses wird man mit einem grauenhaften Skelett konfrontiert, das all die Körperteile zeigt, die nach schweren Stürzen der Fahrer «repariert» werden mussten. Fünf Menschen sind gar gestorben. Zuletzt der erfahrene Skeletonfahrer Ralph Hubbard, ein Brite um die 70 Jahre, der sich 2017 das Genick brach, als er in einer scharfen Kurve, dem so genannten «Shuttlecock Corner» (Federball-Kurve), aus der Spur geworfen wurde.
Wer in dieser Kurve aus der Bahn herauskatapultiert wird und überlebt, wird Mitglied im legendären «Shuttlecock Club». Zu den gebrochenen Körperteilen gehören neben Hals- und Rückenwirbeln auch Schultern, Finger, Füsse, Hüften. Wer die Fahrt auf dem Cresta Run wagen will, muss zuerst eine Einführung absolvieren, den «Death talk» (Todesrede), in dem Clubsekretär Gary Lowe vor den Gefahren von Draufgängertum warnt.
Britische Touristen machen den Anfang
St. Moritz ist ein Spielplatz der Reichen und Berühmten, seit der Ort 1864 zur Geburtsstätte des alpinen Wintersports und -tourismus wurde. In jenem Herbst bot der Hotelier Johannes Badrutt an, sein Hotel für einige aristokratische Gäste aus Grossbritannien im Winter zu öffnen. Er versprach, für ihre Auslagen aufzukommen, falls es ihnen nicht gefallen würde. Bis zu der Zeit war St. Moritz nur ein bescheidenes Sommerziel für Wanderungen gewesen.
Eine der ersten Sportarten, welche die britischen Besucherinnen und Besucher praktizierten, war Schlitteln. Im Winter 1884/1885 entschied eine Gruppe britischer Enthusiasten, einen Eiskanal zu bauen, den heute legendären Cresta Run. Es dauerte fast neun Wochen, bis die Bahn gebaut war. Treibende Kraft war der britische Major Bulpett, der auch den St. Moritz Tobogganing Club (SMTC) gründete.
Noch heute wird die Natureis-Strecke Jahr für Jahr vom SMTC gebaut. Der Cresta Run bleibt eine britische Sache: Die Ankündigungen erfolgen in Englisch und viele Fahrer tragen Vintage-Sportbekleidung. Eine weitere bekannte Sportinstitution in St. Moritz, die von diesen frühen Schlitten-Enthusiasten inspiriert wurde, ist die 1904 nicht weit vom Cresta Run entfernt errichtete Olympische Bobbahn.
Die Nachrichten über die winterlichen Vergnügen in St. Moritz verbreiteten sich rasch. Badrutts Hotel Palace, das an ein Schloss erinnert, wurde 1896 gebaut, auf einer Klippe mit Blick auf den See. Als Angebot für reiche britische Aristokraten, die dem vernebelten London entkommen wollten.
Noch heute ist es ein alpiner Spielplatz für Reiche und Berühmte aus aller Welt. In der jüngeren Vergangenheit veranstaltete das Palace Hotel unter anderem Hochzeitsfeiern für superreiche Familien aus Indien.
Heutige Zeit
swissinfo.ch ging nach St. Moritz, um einige der Frauen zu treffen, die sich darauf vorbereiteten, Kopf voran auf dem Bauch die heimtückische Bahn hinunterzudonnern. Wir befragten erfahrene Fahrerinnen, wie die Britin Carina Evans, die als erste Frau seit 1929 die gesamte Strecke absolviert hat, oder Karin Kuhn aus Zürich, die seit 20 Jahren an den jährlichen Ladies› Day kommt.
Andererseits trafen wir komplette Anfängerinnen, die für drei Abfahrten mit einem so genannten «Guru» oder Privatlehrer sowie einige weitere nicht betreute Abfahrten 600 Franken bezahlten. Ihre Angst war spürbar, als sie sich auf ihre erste Abfahrt vorbereiteten, Helm, Arm- und Handschutz anzogen und die Schuhe, die vorne zum Bremsen mit einer Art Spikes ausgestattet sind.
(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)
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