Erneuerbare Energie in den Schweizer Alpen: Klimaschutz im Einklang mit der Natur?
Der Ausbau von Solar- und Windenergie in den Alpen ist für die Energiewende und die Winterstromversorgung in der Schweiz unerlässlich. Eine aktuelle Studie zeigt, wie Klimaschutz geht, ohne die Biodiversität zu gefährden.
Bis 2050 will die Schweiz unter dem Strich keine Treibhausgasemissionen mehr verursachenExterner Link. Um dieses Ziel zu erreichen, treibt sie den Bau grosser Solar- und Windkraftanlagen voran.
Bis 2035 sollen erneuerbare Energiequellen sechsmal mehr Strom erzeugen als heute – ohne Wasserkraft. So sieht es das neue Stromgesetz vor, das diesen Sommer vom Stimmvolk angenommen wurde.
Nur: «Unter diesem Gesetz könnte der Ausbau auf Kosten der Biodiversität gehen», sagt Sascha Nick, der an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) zu nachhaltiger Energiewende forscht.
Nick weiss, wovon er redet. Er leitete ein gross angelegtes Forschungsprojekt zum Thema Biodiversität und erneuerbare Energien: 45 Wissenschaftler:innen aus diversen Fachrichtungen waren daran beteiligt, darunter Sachverständige in erneuerbaren Energien, Klimaforschung und Biodiversität. Im Oktober veröffentlichten sie ihren BerichtExterner Link.
«Mit einer sorgfältigen Planung können wir die erneuerbaren Energien ausbauen, ohne die Artenvielfalt zu gefährden», sagt Nick. Das sei die gute Nachricht. Gleichzeitig warnen die Forscher:innen: Dieser Ausbau muss einem Ansatz folgen, der die Biodiversität genauso berücksichtigt wie den steigenden Energiebedarf.
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Solarenergie in Skigebieten
Die Schweiz verfügt über eine aussergewöhnlich grosse Vielfalt an Tier- und Pflanzenarten, an Wäldern und Auen, besonders in den Alpen. Doch viele Gebiete sind unzureichend geschützt, die Schweizer Artenvielfalt ist zunehmend bedroht durch die industrielle Landwirtschaft, durch Zersiedelung und Strassen.
Die Alpen sind aber auch zentral für die Energiewende. Um die Stromlücke im Winter zu schliessen, muss die Schweiz die Wind- und Solarenergie in den Bergen auszubauen – also genau dort, wo sich viele ökologisch wertvolle, aber gefährdete Lebensräume befinden. Auch deswegen stossen viele der geplanten Projekte bei der lokalen Bevölkerung und Umweltorganisationen auf Widerstand.
Die Autor:innen der EPFL-Studie fordern eine nationale Strategie. Die Schweiz solle jene Initiativen priorisieren, welche die Biodiversität nicht gefährden oder – noch besser – eine positive Wirkung darauf haben.
Zudem betonen die Forschenden, wie wichtig demokratische Prozesse sind: Genehmigungsverfahren sollten zwar beschleunigt werden, aber es sollte nicht zur Folge haben, dass die Mitbestimmung der Anwohner:innen beschnitten wird. Nur, wenn man sie bei der Planung einbezieht, könnten Energieprojekte auf breite Akzeptanz stossen.
Fokus auf kleinere Projekte
Der im Oktober veröffentlichte Bericht macht zahlreiche Empfehlungen, wie der Energieausbau gelingen kann, ohne die Artenvielfalt zu gefährden. Zum Beispiel solle die gesetzliche Mindestgrösse für Solar- und Windanlagen, die von nationaler Bedeutung sind, angepasst werden: Der Bund solle kleinere Projekte fördern.
Der Vorteil: Bei kleineren Anlagen kann man den Standort flexibler wählen. Man kann sie an Orten bauen, wo es keine neuen Strassen braucht, wo bereits ein Anschluss an das Stromnetz besteht, in der Nähe bestehender Tourismus- und Skianlagen oder in Gebieten, die durch den Wintersport beschädigt wurden und aufgrund des Klimawandels nicht mehr für den Skisport geeignet sind.
«Politiker:innen sagen oft, dass wir uns zwischen Artenvielfalt und Klimaschutz entscheiden müssen», sagt Nick. «Die Frage sollte eher lauten: mehr erneuerbare Energie oder Skifahren?»
Windenergie: Rücksicht auf Vögel und Fledermäuse
Auch beim Ausbau der Windenergie ist die Wahl des Standorts entscheidend. Raphaël Arlettaz, Biologieprofessor an der Universität Bern und Mitautor des EPFL-Berichts, hat jahrelang zu den Gefahren geforscht, die Windkraftanlagen für Vögel und Fledermäuse bergen.
Sein Team hat kartografische Modelle entwickelt, um anhand der Flugrouten von Bartgeiern und Steinadlern in den Alpen Risikogebiete zu identifizieren.
Besonders kritisch sind steile Südhänge mit guten Aufwinden und Gegenden mit grossen Steinbockpopulationen. Bekannte Zugvogelkorridore oder Brutgebiete gefährdeter Vogelarten sollte man ebenfalls in die Planung einbeziehen, so Arlettaz: «Wenn wir unsere Vogelwelt schützen wollen, sollten wir Windkraftanlagen in sensiblen Gebieten vermeiden.»
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Schafft die Schweiz die Energiewende mit Windenergie – und zu welchem Preis?
Fledermäuse wiederum könnten geschützt werden, indem man die Turbinen bei schwachen Windverhältnissen abschaltet: Im Rhonetal fanden Arlettaz und seine Kolleg:innen heraus, dass lokale Arten wie Mausohren und Breitflügelfledermäuse bei starkem Wind in Bodennähe fliegen, entlang von Hecken und anderen Strukturen.
Nur bei leichtem Wind begeben sie sich in die Gefahrenzonen der Turbinen. «Die Anpassung des Betriebs der Turbinen verringert zwar die Stromproduktion etwas, aber das Kollisionsrisiko wird gleichzeitig massiv kleiner», so Arlettaz.
Neue Energieprojekte sorgfältig zu planen, reicht jedoch nicht. Auch die bestehende Infrastruktur sollte für Wildtiere sicher gemacht werden – wie etwa Strommasten für Vögel.
2010 konnten Arlettaz und seine Kolleg:innen in einer Studie zeigenExterner Link, dass bestimmte Mittelspannungsmasten die häufigste Todesursache für Uhus in der Schweiz sind. Auch Störche, Eulen, Milane und andere Greifvögel sterben jedes Jahr an Stromschlägen.
Dabei wäre es möglich, diese Leitungen zu isolieren oder in den Boden zu verlegen. «Wir sollten diese Probleme lösen, bevor wir neue Kraftwerke in den Alpen bauen», sagt Arlettaz.
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Schöne Schweiz – aber wie stehts mit der Biodiversität?
«Ein bisschen Fantasie»
Auch Leon Bennun, leitender Wissenschaftler beim Beratungsunternehmen The Biodiversity Consultancy in Cambridge, UK, betont auf Anfrage die Bedeutung einer integrierten Planung.
«Wenn die Schweiz die erneuerbaren Energien ausbauen und gleichzeitig die Artenvielfalt erhalten will, sollte sie nicht in Einzelprojekten denken, sondern das ganze System betrachten», sagt Bennun. «Wir müssen wegkommen vom Silodenken, bei dem wir nur Projekt für Projekt anschauen.»
Es gebe immer sowohl «Synergien als auch Zielkonflikte» zwischen der Sorge um die Natur, dem sozialen Nutzen, der Sicherheit und der Energieerzeugung.
Daher sei es wichtig, all diese Themen in einem grösseren Massstab zu betrachten. «Aber kleinteilige Entscheidfindung ist immer noch weitaus häufiger», sagt er.
Leider würden viele Länder für ihre Energieversorgung noch immer Grossprojekte bevorzugen. Dabei hätten kleinere, von der Gemeinde getragene Initiativen das Potenzial, die Biodiversität zu schützen und die lokale Bevölkerung einzubeziehen, was wiederum die Akzeptanz fördert.
«Mit etwas Fantasie können Windturbinen, Solar- oder Biogasanlagen zu einem Gemeinschaftsgut werden, das sowohl für Menschen als auch für Pflanzen und Tiere wertvoll ist.»
Editiert von Sabrina Weiss und Veronica DeVore. Übertragung aus dem Englischen: Meret Michel
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