Fichenskandal kaum noch ein Thema – zu Unrecht?
In der Ära nach den Enthüllungen von Edward Snowden hielt sich in der Schweiz die Entrüstung über die staatliche Schnüffelei in Grenzen. Vor 25 Jahren allerdings gingen wütende Bürger auf die Strassen, um gegen den Fichenskandal zu protestieren, der damals das Land erschütterte.
«Die Schweizer ‹Stasi› überwachte mich während vierzehn Jahren. Als ich meine Fiche lesen konnte, wusste ich nicht, ob ich lachen oder weinen sollte – es war unglaublich.» Der Schweizer Journalist Jean-Michel Berthoud hat immer noch eine Kopie der geheimen Akte, die der Staat über ihn von 1973 bis 1987 zusammengestellt hatte.
Er war einer von 900’000 Personen und Organisationen, die während des Kalten Krieges von der Bundespolizei wegen des Verdachts auf «unschweizerisches Verhalten» ausspioniert wurden.
Berthoud machte damals ein Praktikum bei der Schweizerischen Depeschenagentur (SDA). Doch hinter seinem Rücken gaben der Direktor und verschiedene Kollegen Informationen über ihnen verdächtig erscheinende Reporter an die Behörden weiter.
Berthoud war während jener Zeit ein Trotzkist und Mitglied der Revolutionären marxistischen Liga (RML). Aufgrund der Berichte verlor er seinen Job bei der SDA. Doch er wurde schliesslich ein erfolgreicher Journalist, der für verschiedene Medienhäuser arbeitete, darunter auch swissinfo.ch.
«Wenn man zu jener Zeit politisch links stand, war es keine grosse Überraschung, eine Fiche über sich zu entdecken», so Berthoud. Was ihn aber am meisten schockierte, war die Tatsache, dass Mitbürger, sogar seine Nachbarn, ihn bei der Polizei gemeldet hatten. «Ich war in Untermiete bei Architekten, und wir redeten offen miteinander. Sie erzählten alles über mich der Polizei.»
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Auch Journalisten wurden bespitzelt
Was später als FichenskandalExterner Link bekannt wurde, war 1989 nach dem Rücktritt von Justizministerin Elisabeth Kopp aufgedeckt worden. Nachdem diese zugegeben hatte, ihren Mann vor einer Strafuntersuchung einer Firma zu warnen, bei welcher er Vize-Verwaltungspräsident war, setzte das Parlament eine Untersuchungskommission (PUK) zur Untersuchung des Ministeriums und der Geheimdienste ein.
Zwei Wochen nach dem Fall der Berliner Mauer, am 24. November 1989, präsentierte die PUK ihren 243 Seiten starken BerichtExterner Link. Was sie entdeckt hatte, war ein Monster von orwellschem Ausmass: Seit der Jahrhundertwende waren für 900’000 Personen – jeder 20. Schweizer und jeder dritte Ausländer – bei den kantonalen Polizeien und bei der Bundespolizei Dossiers angelegt worden. Die Akten waren ordentlich sortiert auf Karteikarten in Archivschränken bei der Bundesanwaltschaft in Bern untergebracht.
Zu Beginn wurden vor allem deutsche Nazis und während des Kalten Krieges Linksaktivisten überwacht, doch später kamen Gewerkschaftsmitglieder, Feministinnen, Jura-Separatisten, Ausländer, «nicht vertrauenswürdige und verdächtige» Bundesbeamte und sogar durch das Rote Kreuz vermittelte Waisenkinder dazu.
Der Umfang der Spionage war immens. Während einige Personen möglicherweise eine Bedrohung für den Staat bedeuteten, war die Öffentlichkeit geschockt über die Menge an banalen und unschuldigen Berichten. Jeder, der als etwas ungewöhnlich oder «unschweizerisch» galt, riskierte, ausspioniert zu werden. Sei es durch die Teilnahme an einer Demonstration gegen Atomkraftwerke, den Besuch einer Kommune, eine Reise in ein osteuropäisches Land, die Zugehörigkeit zu gewissen Gruppen oder Vereinen, oder sogar den Kauf eines gewissen Buches.
Berthoud war erstaunt zu erfahren, dass sogar seine Mutter überwacht worden war, obwohl diese überhaupt keine Aktivistin gewesen war. «Sie hatte einen Freund, der Metzger war und politisch rechts stand. Vermutlich hat er die Polizei informiert, dass sie einmal an einer Anti-Pinochet-Demonstration teilgenommen hatte», sagt er.
Auf die Strassen
Anfang März 1990 gingen 35’000 Menschen in Bern auf die Strasse und verlangten die Abschaffung der «Schnüffelpolizei», die Herausgabe aller Akten und die Einsetzung einer zweiten PUK. Insgesamt fragten 300’000 Personen um Akteneinsicht nach.
Die zweite PUK bestätigte, dass eine ganze Reihe illegaler Dossiers angelegt worden war, wie auch die Existenz der P-26, einer geheimen Armee-Kaderorganisation, und des Geheimdienstes P-27.
Der wachsende Skandal führte schliesslich zur Reorganisation des Justizministeriums. In den Augen von Kritikern gingen die Reformen aber zu wenig weit. Die Initiative «S.o.S. – Schweiz ohne Schnüffelpolizei» wurde 1990 lanciert. 1998 wurde die Volksinitiative bei der Abstimmung mit 75.4% abgelehnt.
Verteidigung
Der Bericht der Parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK) von 1989 kritisierte die Bundespolizei, keine allgemeingültigen Weisungen oder Richtlinien für ihre Beamten erlassen und diese nicht genügend überwacht zu haben. Weder sei das veränderte Bedrohungsbild rechtzeitig erkannt worden, noch sei mit anderen Departementen zusammengearbeitet worden.
Zudem habe sich die Bundespolizei zu stark auf die politisch linke Szene konzentriert. Der Bericht sprach auch über «belanglose Tatsachen» und «blosse Vermutungen ohne entsprechende Überprüfung des Wahrheitsgehalts».
Der damalige Bundespolizeichef Peter Huber erklärte kürzlich in einem Interview mit der Schweizerischen Depeschenagentur (SDA), die Vorwürfe gegen ihn und seine Mitarbeiter seien «teilweise ungerechtfertigt».
Huber erklärte, die Fichen seien damals «ein internes Arbeitsinstrument» gewesen und hätten «in erster Linie Geschäftskontrollcharakter gehabt», was in der öffentlichen Diskussion zu wenig wahrgenommen worden sei. Während einige Akten «Verdachtsmomente» enthalten hätten, seien auch «neutrale oder entlastende Aspekte» notiert worden.
«Den PUK-Bericht empfand ich teilweise als voreingenommen und tendenziös», so Huber gegenüber der SDA. «Besonders schmerzhaft für meine Mitarbeitenden und mich war jedoch die einseitige, verurteilende Berichterstattung in den Medien, die unsere Tätigkeit in die Nähe der Stasi-Methoden rückte. Eine Aussage von PUK-Präsident Moritz Leuenberger, die wahren Feinde des Staates würden in der Bundesanwaltschaft sitzen, sprengte dann den Rahmen der Fairness definitiv.»
Mitte der 1990er-Jahre wurden die geheimen Dokumente ins Bundesarchiv transferiert und ein neues, computerbasiertes System namens ISIS (Staatsschutzinformationssystem) wurde eingeführt. Dieses steht unter strenger Kontrolle der Parlamentarischen Geschäftsprüfungsdelegation (GPDel).
Doch 2010 kam es erneut zu einem Skandal, als ebendiese Kommission die Geheimdienste bezichtigte, sie hätten erneut Akten über 200’000 Personen angelegt, die verdächtigt wurden, eine Gefahr für den Staat zu sein. Es waren hauptsächlich Ausländer, die gegen das Gesetz verstossen hatten. Doch die öffentliche Entrüstung blieb damals auf kleinem Feuer.
«Qualität vor Quantität»
In einem Interview der Neuen Zürcher Zeitung mit NachrichtendienstExterner Link-Chef Markus Seiler erklärte dieser kürzlich, in der ISIS-Datenbank befänden sich momentan «weniger als 60 000» Personeneinträge.
Die Geheimdienste würden sich heute auf das Motto «Qualität vor Quantität» stützen und hätten «weltrekordverdächtig viele Kontrolleure». Dazu gehörten unter anderen die nachrichtendienstliche Aufsicht im Eidgenössischen Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS), mehrere Parlamentskommissionen wie auch der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte Hanspeter ThürExterner Link.
Thür stand früher selber als möglicher Gründer einer Grünen Partei im Visier der Spione. Er bestätigt, dass die Schweiz ihre Datensammel-Aktivitäten seit 1989 stark reduziert und sich auf wichtige Fälle konzentriert hat.
Eine Massenüberwachung von Schweizerinnen und Schweizern via Internet oder Telefon, wie sie die amerikanische Sicherheits-Agentur NSA und der britische Geheimdienst GCHQ laut Medienberichten praktizieren, sei «unvorstellbar».
Doch er warnte, dass ironischerweise viele Leute unabsichtlich den Geheimdiensten helfen würden, indem sie unvorsichtig mit ihren privaten Daten umgingen. «Die Leute stellen alles auf Facebook und andere soziale Netzwerke und erklären öffentlich, was sie gut finden. Die Geheimdienste sind sehr interessiert an dieser Art von Informationen, die sie analysieren können», erklärt er.
Andere Zeiten
25 Jahre nach dem Fichenskandal hätten sich die Zeiten ganz klar verändert, sagt Berthoud. «Die heutige Lage ist ganz anders als während des Kalten Krieges, als jeder auf der politisch linken Seite ein Staatsfeind war. Heute müssen die Geheimdienste in der Lage sein, Terroristen zu bekämpfen. Doch es ist sehr gefährlich, wenn der Staat zu viele Rechte einschränkt, um Informationen zu beschaffen.»
Immer noch traumatisiert durch den Fichenskandal, hat die Politik mehrmals Anstrengungen abgelehnt, den Geheimdiensten mehr Ermittlungsbefugnisse zu bewilligen. Doch dies könnte sich bald ändern, da die Schweiz gegenwärtig ein neues Nachrichtendienstgesetz ausarbeitet.
Diesen Monat diskutiert das Parlament das neue Gesetz, das verschiedene präventive Massnahmen vorsieht, wie etwa Telefongespräche abzuhören, Räume zu verwanzen und in Computer einzudringen. Auch der Einsatz von Drohnen soll geregelt werden.
Korrekte Kontrollmechanismen seien dabei wieder zu einem heissen Thema geworden, sagt Thür. «Die Reform des Nachrichtendienstgesetzes beinhaltet eine wesentliche, gefährliche Erweiterung der technischen Möglichkeiten. Wir müssen sicherstellen, dass sehr gute Kontrollmechanismen ins System eingebaut werden, damit es zu keinem Missbrauch kommt. Einige Kontrollen wurden verbessert, doch weitere sind nötig», so Thür.
(Übertragen aus dem Englischen: Christian Raaflaub)
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