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8. März – Blumen oder Parolen?

In der Schweiz wird am 8. März skandiert, während die Russen ihren Frauen Blumen schenken. swissinfo.ch

In der Schweiz steht der internationale Frauentag im Zeichen der Gleichberechtigung. In Russland dient der einstige sozialistische Kampftag der Belobigung der Frau.

«Der Tag der Frau ist für uns ein wichtiges Fest, etwa gleich wichtig wie das Neujahrsfest», sagt die 40-jährige Ingenieurin Tanja D. aus Sankt-Petersburg. «Der 8. März ist ein nationaler Feiertag. Die Männer sind dazu aufgerufen, uns Frauen zu verwöhnen. Wir erhalten Blumen und andere Geschenke. Im Idealfall kochen die Männer für ihre Frauen, putzen die Wohnung und überlassen ihnen in den überfüllten Autobussen die Sitzplätze.»

Kampf um Frauenrechte

Mit der ursprünglichen Zielsetzung des internationalen Tags der Frau hat der Frauentag, wie ihn Tanja D. schildert, nicht mehr viel gemein: Der 1910 in Kopenhagen von der zweiten sozialistischen Frauenkonferenz beschlossene Tag will nämlich – laut damals verabschiedeter Resolution – vor allem die «Agitation für das Frauenrecht» verstärken.

1911 demonstrierten erstmals in mehreren europäischen und amerikanischen Städten Frauen für ihre Anliegen: Frauen-Stimmrecht, Lohngleichheit und besseren Arbeitsschutz. Der Frauentag wurde in der Folge auch in der Schweiz zunehmend populärer. Er erlebte seinen kulturellen Höhepunkt 1946 in Lausanne, als linke und bürgerliche Frauen-Organisationen den Tag erstmals gemeinsam begingen.

Im Zuge des Kalten Kriegs geriet der ursprünglich sozialistische Kampftag im Westen zunehmend in den Verruf, ein Instrument des sowjetischen Imperialismus zu sein. Eine Korrektur brachte das Jahr 1975, das UNO-Jahr der Frau. Seither begeht die Weltgemeinschaft den 8. März jedes Jahr offiziell als Weltfrauentag.

Emanzipation nach sowjetischer Manier

Die Sowjetunion war eines der ersten Länder, das sich an die Umsetzung der Forderungen des Frauentags machte. Die junge Sowjetmacht stellte die Geschlechter bereits in den 20er Jahren rechtlich gleich – mit dem Hintergedanken, die Frauen für den «Aufbau des Sozialismus» heranzuziehen. Der Frauentag geriet zum offiziellen Fest, an dem – propagandistisch überhöht – die Verdienste der Frau für die Sache des Kommunismus gefeiert wurden.

Trotz der forcierten Einbeziehung der Frau in den Arbeitsprozess blieben die traditionellen Vorstellungen über die Rolle der Frau als Mutter und Hausfrau insgesamt dominierend. Das Resultat: Die Mehrheit der sowjetischen Frauen hatte eine oft drückende Doppelbelastung in Beruf und Familie zu ertragen – eine Situation, die sich im modernen Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 nicht grundlegend verändert hat.

«Die russische Gesellschaft ist nach wie vor zutiefst patriarchalisch. Die Frauen sind sowohl beim Lohn als auch bei der gesellschaftlichen Stellung diskriminiert», sagt der Soziologe Igor Masalkov von der staatlichen Universität in Moskau (MGU) gegenüber swissinfo. «Eine Frauenbewegung, die eine faktische Gleichstellung der Frau fordert, hat in Russland bisher keine grosse Resonanz gefunden.»

Vor diesem Hintergrund kann es laut Masalkov nicht erstaunen, dass heute die meisten Russinnen und Russen gar nicht mehr um den ursprünglichen Sinn des Frauentags wüssten. «Der Tag der Frau wird als Hommage an das weibliche Geschlecht verstanden. Mehr nicht. Keine Spur von den ursprünglichen politischen Ideen.»

Für eine Gleichberechtigung im Alltag

Im Vergleich mit Russland sind die Frauen-Organisationen in der Schweiz der ursprünglichen Zielsetzung des Frauentags wesentlich treuer geblieben. «Der Frauentag ist eine gute Gelegenheit, die Situation von Frauen und Männern zu reflektieren, Bilanz zu ziehen und Vorschläge, Anliegen auszudrücken», sagt Patricia Schulz, Direktorin des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann in Bern, gegenüber swissinfo.

Die Resonanz des Frauentags hat in der Schweiz in den letzten Jahren allerdings stark abgenommen. Seit 1992 ist keine nationale Kundgebung mehr zu Stande gekommen. Die Tradition lebe aber durch zahllose dezentrale Anlässe weiter, die am 8. März in verschiedenen Regionen der Schweiz stattfinden, ist Patricia Schulz überzeugt. «Der Tag ist noch immer sehr zukunftsorientiert.»

Noch weiter Weg

Obwohl in der Schweiz die Geschlechter auf formaler Ebene gleich gestellt sind, ist der Weg zur realen Gleichstellung noch weit. Dies zeigt ein Blick in die Veröffentlichungen des Bundesamts für Statistik (BFS): Die Schweizer Frauen haben in den letzten Jahren bildungsmässig etwas aufgeholt. Noch immer obliegt ihnen aber der Grossteil der Haus- und Familienarbeit.

Wollen Frauen berufstätig sein, müssen sie sich weit stärker als Männer einschränken. Und die Löhne der Frauen sind deutlich niedriger als diejenigen der Männer: Im Jahr 2000 verdiente eine Frau einen standardisierten monatlichen Bruttolohn von 4358 Franken, rund einen Fünftel weniger als ein Mann mit durchschnittlich 5551 Franken.

Felix Münger

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