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Der Mörder und die Grossmütter

Es ist kalt in Portland. Lisa Christen mit ihrer Gastschwester Jessica Coleman. swissinfo.ch

Nach der ersten Nacht ist alles anders. Austausch-Schülerin Lisa Christen (17) bemerkt das Fehlen von acht Goldfischen und kauft sich ein Ballkleid.

Ist der Geruch von Grossmüttern gefährlich? (Teil 4)

Wir haben jetzt Winter in Portland. Es ist hier auf 1000 Metern über Meer ziemlich kalt. Ich bin froh um meinen Schal und meine Snowboardjacke und habe mir sogar noch Handschuhe und eine Mütze gekauft. Ich hoffe auf die wärmeren Jahreszeiten.

Meine Mutter hatte tatsächlich recht. Ich bin jetzt seit ein paar Tagen hier und ich muss offen gestehen: Es ist überhaupt nicht langweilig. Die «Aussies» sind sehr gastfreundlich, offen und kontaktfreudig. Das ist genial! Öffentliche Parties gibt es hier zwar nur sehr selten. Doch die Menschen veranstalten ihre eigenen Parties bei sich zu Hause. Sie sind sehr unkompliziert und laden oft tagsüber spontan Leute ein.

Entweder man hat Gäste bei sich zu Hause oder man ist bei einem anderen zu Besuch. Wir waren vor ein paar Tagen bei einer Familie zum Mittagessen eingeladen. Als der Vater dieser Familie erfuhr, dass ich aus der Schweiz stamme, holte er stolz sein Victorinox Taschenwerkzeug hervor. Er benutzt es jeden Tag beim Arbeiten.

Der wilde Onkel Ted

Besuch bekommen wir auch wöchentlich von Onkel Ted, einem älteren Mann, der aussieht, als sei er einem Wildwest-Film entsprungen. Er bringt jeweils jedem Kind einen Sack voller Süssigkeiten mit. «Eine Jahresration», sage ich zu Jessica, die milde lächelt und meint, dass ich von nun an jede Woche einen solchen Beutel kriegen würde. Oh Gott, zum Glück sind meine zwei kleinen Gastbrüder noch da!

Jeden Morgen werde ich von den Vögeln geweckt. Es ist, als sei ich in den Tropen. Am Abend schauen wir fast immer fern. Und wenn Touch Football läuft, gibt es Chips und Bier und dann wird für New South Wales gehofft, geschrieen und gelacht. Meine Familie hat vier Fernseher. Einer steht in der Küche, einer im Wohnzimmer, einer im Kinderzimmer und einer auf dem Balkon. Sie haben auch vier Kühlschränke.

Das Rätsel um die verschwundenen Goldfische

Als ich noch in der Schweiz war, hatte Jessica in ihren Mails von zwei Kanarienvögeln und 20 Goldfischen geschrieben. Beim Nachzählen waren es nur noch ein Vogel und zwölf Fische. Jessica meinte, dass der eine Kanarienvogel von einer giftigen Pflanze gegessen habe. Was mit den Fischen passiert ist, weiss ich bis heute nicht. Die beiden Katzen können es nicht gewesen sein, denn die dürfen nicht ins Haus. Dies gilt auch für den Hund, der sich mit den Katzen gut verträgt.

Wer hier etwas unternehmen will, braucht ein Auto. So fuhren wir mit Jessicas Freundin, die schon Autofahren kann, nach Lithgow, einem grösseren Ort, wo ich die elfte Klasse der High School besuchen werde. Wir kauften ein Ballkleid für mich, denn schon bald findet der traditionelle Schulball statt. Tage später ging es dann mit Anthony nach Bathurst, um weisse Pullover und Blusen für die Schule einzukaufen. Glücklicherweise sind die Uniformvorschriften der Schule nicht so strikt, so dass ich wenigstens meine dunkelblauen Jeans tragen kann.

Es ist sehr ungewohnt, dass die Autos in Australien auf der linken Strassenseite fahren. Ich schaue beim Überqueren der Strasse immer zuerst auf die falsche Seite. Auch die gelben Schilder mit den Kängurus und den Koalas sind nicht umsonst auf dem Highway angebracht.

Die Delta Powerstation, wo Anthony arbeitet, habe ich mir eines Morgens zusammen mit 30 anderen Besuchern angesehen. Leo, unser Führer, versuchte mir alle Einzelheiten des Kraftwerkes genauestens zu erklären. Leute aus Italien, Spanien und Deutschland hatte er schon mehrfach durch die Anlage geführt, jedoch noch nie eine Schweizerin. Leo gab sich besonders viel Mühe und liess mich die Schweiz auf der Weltkarte mit einer Nadel markieren.

Grossmütter und ihre Mörder

Eines Abends erzählte mir meine Gastmutter Sue etwas wirklich Unheimliches. Ich hatte sie beim Lesen unterbrochen und nach dem Titel ihres Buches gefragt. Das Buch handle von einem Mann, der Grossmütter töte, weil er ihren Geruch nicht ausstehen könne.

Ich hielt das für völlig absurd. Doch Sue sagte mir, dass diese Geschichte wahr und der Mörder ein angesehener und kluger Mann gewesen sei. Anthonys Bruder sei Polizist und habe den Mann gefasst, als er just einen neuen Mord an einer älteren Frau plante. Der Mörder sitzt nun lebenslänglich in einem Gefängnis für Schwerverbrecher, welches nur einige Kilometer von hier entfernt in den Bluemountains liegt.

Mir wurde mulmig zumute. Doch ich beruhigte mich. Denn mit meinen jugendlichen 17 Jahren – dessen war ich mir sicher – stand ich für einmal auf der sicheren Seite des Lebens.

In ein paar Tagen gehe ich zum ersten Mal in die Lithgow High School. Komischerweise freue ich mich darauf, wieder einmal so richtig zur Schule zu gehen.

swissinfo, Lisa Christen
(bearbeitet von Thomas Vaszary)

Lisa-Deborah Christen (17) lebt zusammen mit ihrer Mutter Elsbeth (53) und den Brüdern Albrecht (23) und Basil (20) in Hergiswil im Kanton Nidwalden. Vater Hans starb im Jahr 2000.
Lisa geht am Kollegium St. Fidelis in Stans NW zur Schule.
Während ihres Austauschjahres besucht sie zusammen mit ihrer Gastschwester Jessica die High School in Lithgow.
Anthony und Suzanne Coleman sind Lisas Gasteltern in Portland. Grant (19), Jessica (17), Mathew (6) und Daniel (4) sind ihre Gastgeschwister.

Die 17-jährige Lisa Christen aus Hergiswil NW geht für ein Jahr lang als Austausch-Schülerin nach Australien.

In Portland, New South Wales, 250 Kilometer von Sidney entfernt, lebt sie bei der Gastfamilie Coleman und besucht zusammen mit ihrer Gastschwester Jessica die Schule in Lithgow.

In ihrem Online-Tagebuch erzählt Lisa von ihren Erwartungen, Erfahrungen und Begegnungen mit den Menschen im Land ihrer Träume – jeweils samstags auf swissinfo.ch.

Wer mit Lisa Kontakt aufnehmen möchte, erreicht sie unter lisachristen86@gmx.ch.

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