«Gewalt ist kein Privileg der Unterschicht»
Jugendliche Schläger, die Menschen spitalreif schlagen, schaffen es immer wieder auf die Titelseiten. In Blogs und Leserbriefen kommt die Empörung vieler Menschen zum Ausdruck. Peter Schneider, Psychoanalytiker und Publizist, analysiert mit spitzer Zunge.
Nach dem Gewaltakt Schweizer Jugendlicher in München gingen im swissinfo.ch-Blog «Deutsche in der Schweiz» Hunderte von Kommentaren ein. Die einen drückten grosse Empörung aus, andere suchten nach Ursachen oder Schuldigen, wieder andere gaben Patentrezepte ab, wie diesem Problem beizukommen sei.
swissinfo.ch: Jugendgewalt scheint mehr als bloss ein Sommerthema zu sein. Viele Menschen engagieren sich mit Leserbriefen oder Blog-Einträgen gegen die Gewaltausbrüche Jugendlicher. Was ist da los?
Peter Schneider: Business as usual. Empörung gehört zum Leserbriefschreiben wie das Klappern zum Handwerk.
swissinfo.ch: Einige Blog- und Leserbriefschreiber möchten gewalttätige Jugendliche, aber auch Kinderschänder, Vergewaltiger usw. einfach wegsperren und den Schlüssel wegwerfen. Andere möchten die Fehlbaren nach dem Verbüssen einer hohen Strafe aus dem Land ausweisen. Was meinen Sie dazu?
P.S.: Das ist vor allem Wichtigtuerei. Und die Annahme, man müsse zu allem Möglichen seinen unmassgeblichen Senf dazugeben. Wenn einem der Tag lang wird und man auch sonst nichts besseres zu tun hat, dann schreibt man halt einen Leserbrief oder einen Internet-Kommentar. Je radikaler und unerbittlicher, desto besser.
Und schliesslich hält man die eigene Rage, in die man sich wieder einmal hineingesteigert hat, für das Mass aller Dinge.
swissinfo.ch: Vor 20 und mehr Jahren konnten sich Jugendliche mit langen Haaren und Jeans oder Punkerkluft schon deutlich von ihren Eltern abgrenzen. Heute lockt man mit gewagter Kleidung niemanden mehr aus der Reserve. Greifen Jugendliche deshalb öfter zur Gewalt? Sind vielleicht auch deshalb Massenbesäufnisse (Botellones) en Vogue?
P.S.: Man kann die Botellones doch nicht mit Gewaltausbrüchen in einen Topf werfen. Selbstverständlich gibt es das Bedürfnis der Jungen, sich von den Alten abzugrenzen. Und eine gegenläufige Orientierung der Erwachsenen an der Jugendkultur, welche es vor 50 Jahren nicht gab.
Aber man kann nicht immer jedes Phänomen nur aus einem Punkt erklären wollen. Und erst recht nicht so tun, als seien die einzigen Menschen, die gewalttätig werden, jünger als 18 Jahre.
swissinfo.ch: Trotzdem: Ist es heute für Jugendliche nicht schwieriger, sich abzunabeln, abzugrenzen?
P.S.: Es ist gewiss anders; aber man kann nicht immer alles, was anders ist, als eine Steigerungsform dessen beschreiben, was früher einmal war.
swissinfo.ch: «Früher war alles besser», heisst es oft. Auch die Jugend. Stimmt das? Leben wir in einer sittenlosen Zeit?
P.S.: Auf diese Frage weiss ich wie immer nur mit Gegenfragen zu antworten: Verglichen mit welcher Zeit und welchen Jugendlichen? Mit den minderjährigen Kriegsfreiwilligen von 1914? Der Hitlerjugend von 1936?
swissinfo.ch: Warum hat man denn so oft das Gefühl, dass die Vergangenheit besser war als die Gegenwart?
P.S.: Weil wir nicht in der der Vergangenheit, sondern immer in der Gegenwart leben müssen.
swissinfo.ch: Müsste man zusätzlich zu den Jugendlichen auch die «fehlbaren» Eltern und Erzieher zur Rechenschaft ziehen?
P.S.: Man müsste vielleicht – statt immer nur von Migrationshintergründen, fremden Kulturen und fehlender Integration als Ursache der jetzt im Fokus stehenden Kriminalität – von deren Eigenschaft als einem Klassen-Phänomen sprechen.
Wer in prekären Lebensverhältnissen aufwächst, greift eher zum Baseballschläger als zum guten Buch. Das ist heute so, und war vor achtzig Jahren so.
swissinfo.ch: Aber es wenden ja nicht nur aus prekären Verhältnissen stammende Jugendliche Gewalt an. Auch viele Mitglieder der Baader-Meinhof-Bande stammten aus gutbürgerlichen, bildungswohlgesinnten Verhältnissen.
P.S.: Das, was man heute als Jugendgewaltkriminalität bezeichnet, kann ja wohl kaum mit dem deutschen Terrorismus der siebziger Jahre verglichen werden. Natürlich ist Gewalt kein Privileg der Unterschicht.
Mit dem gleichen Recht jedoch, mit dem man darauf hinweist, dass gewisse Formen der Kriminalität geschlechtsspezifisch sind, kann man sagen, dass sie nicht unanhängig von sozialen Faktoren ist.
swissinfo.ch: Wird der Begriff Kuschelpädagogik Einzug halten in unseren Wortschatz wie etwa Scheininvalide, Linke und Nette?
P.S.: Kampfbegriffe sind langlebig. Besonders wenn sie im Kampf gegen Windmühlen entstanden sind.
swissinfo.ch: Wir sind eine «Leistungsgesellschaft». Der individuelle Erfolg ist das Wichtigste, Konkurrenten müssen ausgeschaltet oder an die Wand gedrückt werden. Hat das auch Einfluss auf unsere Kinder? Wie steht es mit Werten?
P.S.: Natürlich haben gesellschaftliche Veränderungen Einfluss auf unsere Kinder. Und zwar dergestalt, dass man in der Erziehung das zu konservieren sucht, was gesellschaftlich längst nicht mehr vorhanden ist.
Die pädagogischen Rezepte und Konzepte werden so Teil eines imaginären gesellschaftlichen Paralleluniversums, ein nostalgisches Neverland.
swissinfo.ch: Trotzdem, welchen Einfluss hat die Leistungsgesellschaft auf Kinder und Jugendliche? Können sich Konzepte, die vor allem auf Leistungsmaximierung zielen, bei der Erziehung bewähren?
P.S.: Das wird man sehen. Erziehung ist immer ein grosses Experiment. Bei der gegenwärtigen Erziehungsideologie scheint es mir allerdings so zu sein, dass dort genau jene Maximen, die zum ökonomischen Credo gehören – laissez faire, der Markt soll bestimmen, etc. – pädagogisch widerrufen werden.
Dort geht es plötzlich um möglichst enge Regeln, um Grenzensetzen, um zeitlose Werte, um Moral usw.
Etienne Strebel, swissinfo.ch
Geboren 1957, wohnt in Zürich.
Studium der Philosophie, Germanistik und Psychologie in Bochum, Münster und Zürich.
1987 Abschluss Dr. phil. in Psychologie,
2004 Habilitation.
Lehrt als Dozent für psychoanalytische Psychotherapie an der Universität Zürich und als Privatdozent für Psychoanalyse an der Universität Bremen.
Psychoanalytiker in eigener Praxis seit 1988.
Zahlreiche Buchpublikationen vor allem zu theoretischen Problemen der Psychoanalyse. Tätigkeit als Satiriker und Kolumnist (täglich auf DRS3, wöchentlich in der Sonntagszeitung und im Tages-Anzeiger).
Preisträger des SBAP-Preises 2008 (SBAP: Schweizerischer Berufsverband für angewandte Psychologie).
Mitherausgeber der Sphèressays.
Laut einem Bericht des Bundesamtes für Polizei gibt es in der Schweiz rund 500 jugendliche Intensiv- und Mehrfachtäter. Meist handelt es sich um junge Männer mit Migrationshintergrund.
Die Täter, die sich häufig zu ethnisch gemischten Banden zusammenschliessen, sind gemäss der Befragung männlich, stammen in der Regel aus bildungsfernen Schichten mit Migrationshintergrund und leben bezüglich Familie, Schule, Arbeit und Drogenkonsum in problematischen Verhältnissen. Die meistgenannten Ethnien stammen vom Balkan und der Türkei.
Die Polizeikorps in der Romandie erwähnten zudem auch nordafrikanische Länder und vereinzelt andere Länder Afrikas.
Gemäss den Angaben der Kantone, die teils auf Zählungen, teils auf Schätzungen beruhen, scheinen Mädchengangs die Ausnahme zu sein.
Mehrheitlich unumstritten ist bei den Experten die qualitative Veränderung der Jugendkriminalität in den letzten Jahren. Vor allem die Brutalisierung bei Gewaltstraftaten und die Intensität der Delinquenz bei den Einzelnen hat sich laut Umfrage gesteigert.
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