Lehrstelle als Luxus
Immer mehr Jugendliche finden keine Lehrstelle. Vor allem begehrt sind Lehrstellen im kaufmännischen Bereich.
swissinfo hat eine junge Frau getroffen, die seit über einem Jahr versucht, eine KV-Lehre zu finden.
«In den letzten zwei Jahren habe ich insgesamt 270 Bewerbungen geschrieben», sagt die 17-Jährige aus Zürich, nennen wir sie Nadine.
«Ich wollte eine Lehrstelle als kaufmännische Angestellte.» Bekommen hat sie keine. Die Gründe dafür kennt sie nicht. Ihre Schulzeugnisse sind in Ordnung, sie ist aufgeweckt und selbstbewusst.
Der Berufsberater nach der Mittelstufe fand gar, sie solle aufs Gymnasium. Was Nadine aber nicht wollte. Er schlug ihr deshalb die KV-Lehre vor, wegen der hohen schulischen Ansprüche.
«Er meinte, er sähe kein Problem für mich, eine Lehrstelle zu finden», erinnert sie sich bitter.
5000 Jugendliche 2003 ohne Lehrstelle
«Im KV-Bereich gibt es einen der grössten Engpässe bei den Lehrstellen», weiss auch Myriam Holzner, Sprecherin des Bundesamts für Berufsbildung und Technologie (BBT).
Laut dem Lehrstellenbarometer des vergangenen Jahres bewarben sich um jede KV-Stelle 19 Jugendliche. Im letzten Jahr fanden rund 5000 Jugendliche keine Lehrstelle.
Den Lehrstellenmangel kennt auch Jutta Röösli. Sie ist Leiterin der Berufsberatung des Kantons St.Gallen.
«Die Lage ist angespannt. 20 bis 50 Bewerbungen für eine Lehrstelle sind keine Seltenheit.» Besonders in den Agglomerationen und Städten sei die Lage für Jugendliche mit schlechten Noten, für Migranten oder Mädchen prekär.
10. Schuljahr als Warteschlaufe
Nadine entschied sich für ein freiwilliges 10. Schuljahr. «Wir haben gelernt, gute Bewerbungs-Dossiers zu schreiben und Einstellungs-Gespräche zu führen.»
Fast ein Viertel aller Jugendlicher schafft den direkten Einstieg in die Berufswelt nach der obligatorischen Schulbildung nicht, wie eine Studie des Bundesamts für Statistik (BFS) zeigt.
Das 10. Schuljahr ging vergangenen Herbst zu Ende und Nadine war zuversichtlich, in der zweiten Runde eine Lehrstelle zu finden. Wieder häuften sich die Absagen.
«Es gab Phasen, da schaute ich den ganzen Tag fern. Manchmal war ich nur noch deprimiert», sagt Nadine. «Im Winter war es schlimmer als im Sommer.»
Verordnete Lehrstellen ohne Chance
Seit 1996 sorgt der Lehrstellenmangel regelmässig für Schlagzeilen. Die Linke strebte deshalb eine langfristige Lösung an:
In der so genannten Lehrstellen-Initiative forderte sie, dass Betriebe mit Lehrlingen finanziell belohnt und solche ohne bestraft werden sollen. Damit sollte der «Ausbildungsflucht» der Lehrbetriebe ein Ende gesetzt werden.
Bei der Volksabstimmung vor einem Jahr wurde das Anliegen haushoch verworfen.
In Kraft getreten ist dafür Anfang 2004 das neue Berufsbildungs-Gesetz. Dieses setzt auf die Selbstverantwortung der Wirtschaft: Ein genügendes Angebot an Lehrstellen wird im Gesetz «angestrebt».
Bundesrat verlangt Flexibilität
Konjunktur haben entsprechend Forderungen wie jene von Wirtschaftsminister Joseph Deiss, der mehr Flexibilität verlangt. Die Zeiten seien vorbei, in denen alle Jugendliche ihren Wunschberuf wählen konnten. «Wer will, der findet nach wie vor einen Ausbildungsplatz», sagte er vor einem Jahr.
Davon will Nadine nichts wissen: «Drei Jahre etwas machen, das ich nicht mag, ist der Horror. Eine meiner Freundinnen hat das gemacht. Sie ist jetzt total frustriert.»
Auch beim BBT weiss man um die unglückliche Situation der Jugendlichen, die keine Lehrstelle im Traumberuf ergattern können. «Sie sollen versuchen, ihre Horizonte zu erweitern», rät Myriam Holzner.
«Es gibt über 250 andere Berufe und es kommen immer neue hinzu und die Berufsbilder ändern sich schnell. Berufsberatung und das Internet bieten umfassende Informationen. Ich kann den Jugendlichen nur raten: Nutzen Sie diese!»
Firmen verlangen Zusatz-Tests
Nadine macht weiter im Konkurrenzkampf. Viele Unternehmen verlangen bei der Bewerbung für eine KV-Lehre neben den Schulzeugnissen einen so genannten Multicheck-Test der gleichnamigen Firma.
«Meine Eltern haben 100 Franken dafür bezahlt, ich habe gut abgeschnitten, und es hat trotzdem nichts genützt», erinnert sich Nadine.
«Schon für Schnupperlehren wollen einige Betriebe einen Test sehen», weiss die Berufsberaterin. Sie ist nicht glücklich über den Trend zu zusaätzlichen Prüfungen.
Sie plädiert dafür, dass Lehrmeister wieder mehr aufs Zwischenmenschliche achten und erst dann auf die Noten. Oder wie Nadine sagt: «Ich will nur die Chance, mich persönlich vorzustellen und ‹Hallo› zu sagen.»
swissinfo, Philippe Kropf
Lehrstellenbarometer 2003:
70’000 Lehrstellen
Büroberufe: 14’500
Metallindustrie: 26’000
Baugewerbe: 7500
Gastgewerbe: 3000
5000 Jugendliche ohne Lehrstelle
In der Schweiz schliessen jedes Jahr rund 70’000 Jugendliche nach der Schule einen Lehrvertrag ab. Es gibt über 250 Berufe. Eine Lehre dauert 3 oder 4 Jahre.
Es gibt zuwenig Lehrstellen. Im letzten Jahr blieben rund 5000 Jugendliche ohne Lehrstelle. Am begehrtesten sind KV- und Informatik-Lehren.
Ein Viertel aller Jugendlicher schafft den direkten Übertritt ins Erwerbsleben nicht. In einem 10. Schuljahr können sie ihre Allgemeinbildung erweitern und sich intensiver auf die Berufslehre vorbereiten.
Mit jedem Jahr, das Jugendliche ohne Lehrstelle überbrücken, steigt jedoch der Druck auf den nächsten Jahrgang, der zum ersten Mal eine Lehrstelle sucht.
20 bis 50 Bewerbungen für einen Lehrstelle gelten heute als normal.
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