Schwache Schüler sind übertherapiert
Mehr als die Hälfte der Schweizer Schulkinder wird therapiert, um Schulprobleme zu lösen. Viel zu viele, sagen die Autoren eines kürzlich veröffentlichten Buchs über Lernschwierigkeiten. Eltern, Lehrer und Doktoren hätten unrealistische Erwartungen.
Mit ihrem Buch wollen der Solothurner Kinderarzt Thomas Baumann und der Zuger Kinderarzt und Jugendpsychiater Romedius Alber die Anzahl jener Kinder verringern, die sich in Therapie befinden – häufig unnötigerweise, wie sie behaupten.
In einem Interview in der NZZ am Sonntag sagte Baumann, Eltern würden heutzutage zu rasch zu einer Therapie greifen, wenn ihre Kinder in der Schule Probleme hätten: «Das Kind hat Schulschwierigkeiten? Also muss eine Diagnose her, es muss eine Therapie her, alles muss sofort wieder gut sein», fasste er die Problematik zusammen.
Als er seine Praxis vor 30 Jahren eröffnet habe, hätten praktisch keine Kinder Therapien wegen Lernschwierigkeiten beansprucht, erzählte er. Heute erhielten über die Hälfte der Kinder «irgendwelche Therapien».
«Die Kinder haben sich nicht verändert», so Baumann. «Es werden einfach mehr Variationen der Norm als pathologisch erklärt. Wir haben heute völlig falsche Vorstellungen davon, was normal und was nicht normal ist.»
Daher würden viele Eltern dafür sorgen, dass ihre Kinder Schul- oder Psychotherapien erhielten, um alle wahrgenommenen Schwächen zu bekämpfen.
Für die Eltern ein Kampf
Matthias Hugenschmidt, Vorstand der basellandschaftlichen Sektion von Schule und Elternhaus, der Elternorganisation der deutschsprachigen Schweiz, teilt die Meinung, dass immer mehr Kinder Therapien wegen Lernschwierigkeiten erhielten.
Laut Hugenschmidt gibt es viele mögliche Gründe, warum Therapien derart salonfähig geworden sind. Der Hauptgrund seien die wachsenden Erwartungen, die in die Kinder gesteckt würden – nicht nur durch die Schulen, sondern generell durch die Gesellschaft.
Durch unrealistische Erwartungen würde die Gesundheit der Kinder gefährdet, befürchtet er. «Ob sie von Lehrern oder Eltern kommen; übertriebene Erwartungen können dazu führen, dass das schwächste Glied in der Kette, nämlich das Kind, Auffälligkeiten zeigt, die dann wiederum medizinisch behandelt werden sollten.»
Grundsätzlich sollte nur dann professionelle Hilfe in Anspruch genommen werden, «wenn diese Überforderung zu einer drastischen Minderung der Lebensqualität führt. Das heisst, wenn daraus Angstzustände, Schlafstörungen, Verhaltensauffälligkeiten entstehen».
Falsche Diagnose
Laut den Ärzten Baumann und Alber kommt es relativ rasch zu Fehldiagnosen mit ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit/ Hyperaktivitäts-Syndrom). Lehrer, die lediglich einen ADHS-Fragebogen ausfüllten, fänden bei mindestens einem Drittel aller Buben diese Symptome. Solche Fragebogen seien aber immer «sehr subjektiv», so Baumann in der NZZ am Sonntag.
Alber erklärte, die Ärzte könnten diese Diagnose dann nur bei einem Drittel dieser Kinder bestätigen. Die anderen seien jeweils aus ganz anderen Gründen unaufmerksam.
«Kinder mit Migrationshintergrund zum Beispiel verstehen vielfach im Unterricht zu wenig, langweilen sich und werden unruhig – das hat nichts mit ADHS zu tun.»
Positives hervorheben
Die beiden Ärzte sagen in ihrem Buch, in der Schweiz herrsche ein «Therapie-Wahn». Das Grundproblem sei die grosse Anzahl aller möglichen Therapieformen, denen Kinder heute unterworfen würden. Es werde zu stark darauf abgezielt, Schwächen zu finden; die Stärken der Kinder hingegen würden zu wenig in Betracht gezogen.
«Früher war man entspannter. Da gab es einfach gescheitere und dümmere Kinder, der eine konnte dieses besser und der andere etwas anderes», so Alber in der NZZ am Sonntag. «Man hatte das Vertrauen, dass auch derjenige, der in einem Fach nicht so gut war, später eine Chance auf einen vernünftigen Job haben würde.»
Während für Baumann grundsätzlich nichts dagegen spricht, die Kinder dabei zu unterstützen, bessere Leistungen zu erreichen, gibt er aber zu bedenken, dass jede Diagnose etwas auslöse: «Therapien stigmatisieren. Kinder wollen normal sein, und das sind sie nicht, wenn sie jeden Mittwochnachmittag statt Fussball zu spielen in die Logopädie müssen.»
Wenn schon Therapien, dann besser solche, die das Kind stärken und nicht nur Defekte reparieren würden, verlangen die beiden Kinderärzte. «Ich frage die Eltern immer, in welche Therapien das Kind gerne geht – das sind auch diejenigen, die mehr bringen als schaden», sagte Alber.
Die Hauptzuständigkeit für die Bildung in der Schweiz liegt bei den Kantonen, es gibt somit 26 Schulsysteme.
Die obligatorische Schulpflicht in der Schweiz dauert neun Jahre, der Besuch der Schule ist kostenlos.
Die meisten Kinder treten im Alter von sechs Jahren in die Schule ein, nachdem sie während einem Jahr, in mehreren Kantonen während zwei Jahren, einen Kindergarten (Vorschule) besucht haben.
In den meisten Kantonen dauert die Primarstufe sechs Jahre, gefolgt von drei Jahren Sekundarstufe I.
Diese bereitet die Kinder auf die berufliche Grundausbildung oder auf den Übertritt an allgemeinbildende Schulen der Sekundarstufe II wie Gymnasien vor.
Auf die 9 Jahre obligatorische Schulpflicht folgt normalerweise ab dem Alter von 15, 16 Jahren die weitere Ausbildung auf der Sekundarstufe II, die in der Regel drei bis vier Jahre dauert.
Etwa 90% aller Jugendlichen in der Schweiz bilden sich im Rahmen der Sekundarstufe II weiter, etwa zwei Drittel davon auf dem Weg einer beruflichen Grundbildung.
Schulschwierigkeiten: Störungsgerechte Abklärung in der pädiatrischen Praxis.
Autoren: Thomas Baumann, Romedius Alber
Verlag: Huber, Bern
(Übertragen aus dem Englischen: Christian Raaflaub)
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