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Sexualerziehung ist Kinderschutz

Geschwister in der Badewanne: für manche Eltern eine Verunsicherung. imagepoint

Eltern sollen mit ihren Kindern möglichst früh über Sexualität reden. Nicht zuletzt, um Kinder vor sexueller Gewalt zu schützen. Die Eltern bei diesen Gesprächen zu unterstützen, ist das Ziel einer neuen Broschüre.

Die Broschüre «Sexualerziehung bei Kleinkindern und Prävention von sexueller Gewalt» wurde von der Stiftung Kinderschutz Schweiz und der Mütter- und Väterberatung erarbeitet und in Bern vorgestellt.

Die wachsende Sensibilisierung für sexuelle Gewalt an Kindern hat zu einer grossen Verunsicherung im erzieherischen Alltag geführt. Eltern stellen sich zunehmend die Frage, wie sie ihre Kinder vor sexuellen Übergriffen schützen und ihnen gleichzeitig den so wichtigen und notwendigen Raum für eigene Erfahrungen und Entdeckungen lassen können.

Auch die andauernde mediale Überflutung mit Sexualität verunsichert viele Eltern. Soll man mit den Kindern ständig darüber reden oder eher Zurückhaltung üben?

Schwieriges Unterfangen

Wer Kinder habe, wisse dass dies eine schwierige Aufgabe sei, sagte Jacqueline Fehr, Präsidentin der Stiftung Kinderschutz und SP-Nationalrätin, bei der Präsentation der Broschüre. «Stellen Sie sich zum Beispiel Situationen im Alltag von 4-jährigen Kindern vor:

Benjamin möchte mit seiner gleichaltrigen Freundin Doktorspiele spielen, aber die Eltern verbieten es ihm. Beim Waschen auf dem Wickeltisch benennt die Mutter von Tim all seine Körperteile, nur die Geschlechtsorgane überspringt sie beschämt. Alle Buben und Mädchen in einer Kinderkrippe baden nackt, nur Selma und Gian müssen Badekleider tragen, weil ihre Eltern das so wollen. Wenn der 4-jährige Samuel nackt in der Wohnung herumläuft und mit seinem Penis spielt, sagen die Eltern, das mache man nicht, das sei unanständig.»

Die vielen Berichte oder Studien, wonach Kinder oft interfamiliär oder im Bekanntenkreis sexuell missbraucht werden, verunsicherten die Eltern noch mehr, sagt Ursula Dolder von der Mütter-und Väterberatung Schweiz gegenüber swissinfo.ch. «Wie kann ich mein Kind konkret schützen? Wie spreche ich ganz natürlich über Sexualität mit meinem Kind? Dort haben Eltern eigentlich wenig Unterstützung, auch weil man nicht darüber spricht.»

Kinder stärken und schützen

Bei der Aufklärung ihrer Kinder stünden den Eltern oft Unsicherheiten, Scham oder Unwissen im Weg. Sendeten sie negative Signale aus, würde dies den Kindern verunmöglichen zu lernen, dass der Körper etwas Wertvolles sei, so Jaqueline Fehr.

Die neue Broschüre ermögliche einen differenzierteren Umgang mit dem Thema. Würden Eltern ihre Kinder begleiten, helfe dies, sie zu stärken und zu schützen. Dabei sei auch die Zusammenarbeit mit Kindergärten, Kindertagesstätten, Kinderhorten und Tagesmüttern wichtig. «Die interdisziplinäre Vernetzung liegt uns sehr am Herzen», erklärt Ursula Dolder.

Migrantenfamilien einbeziehen

Sexualerziehung, das Thema Sexualität generell ist in den Kulturen mancher Migranten in der Schweiz ein Tabu. Gerade deshalb ist für Ursula Dolder eine Sensibilisierung in diesem Milieu sehr wichtig.

«Wir haben oft mit Migrantenfamilien aus unterschiedlichsten Kulturen und mit verschiedensten Sprachhintergründen zu tun. Zum Teil besuchen wir sie auch zu Hause. Wichtig ist, dass man das Thema Sexualerziehung auch in ihre Kultur hinein übersetzen kann, dass man genau schaut, woher sie kommen, was sie für kulturelle, gedankliche Hintergründe haben, die auch das Thema Sexualität prägen.»

Häufigste Kindsmisshandlung

Letzte Woche präsentierte das Zürcher Kinderspital neue Zahlen und Fakten zu den Kindsmisshandlungen (2003-2006). Am häufigsten werden sexuelle Übergriffe gemeldet, und zwar mit einem Anteil von fast 40%.

Dies überrascht den Sozial- und Sexualpädagogen Bruno Wermuth, Co-Autor der neuen Broschüre, nicht. Dass laut den Kinderspital-Zahlen die Täter von sexuellen Übergriffen meist ausserhalb der Familie stünden, sei schon überraschender, sagt er gegenüber swissinfo.ch.

«Ich erkläre mir das so, dass die Gesellschaft eindeutig sensibler geworden ist, was das weitere Umfeld von Übergriffen anbelangt. Übergriffe, wie sie beispielsweise unter gleichaltrigen Kindern stattfinden, werden vermehrt auch angesprochen. Entsprechend tariert sich vielleicht diese Zahl auch ein wenig aus, im Sinne von: Es ist nicht nur das nähere familiäre Umfeld.»

Problem Übersexualisierung

Die alltägliche mediale Bombardierung mit Sexualität ist nicht nur für Kinder ein Problem. Es fällt auch Erwachsenen schwer, damit umzugehen.

Für Bruno Wermuth macht es Sinn, sich vor diesem inflationären Angebot zu schützen, ein wenig Abstand zu nehmen. Man sollte sich persönlich auch bewusst sein, was man unter Sexualität versteht, wie man sie leben will. «Sexualität sollte in einem intimen Bereich gelebt werden.»

Er werde im Zusammenhang mit dieser Übersexualisierung auch immer wieder gefragt, ob man eigentlich auch noch am Mittagstisch mit den Kindern darüber reden müsse. «Ich finde, gerade eben nicht. In dem Sinn würde ich dazu ermutigen, ein Zeichen zu setzen gegen diesen inflationären Umgang mit dem Thema und etwas Zurückhaltung zu üben.»

Gerade auch deshalb, so Wermuth, sei es wichtig, dass die Broschüre aufzeige, was Kindern zugemutet werden könne und wo die Grenzen lägen.

Jean-Michel Berthoud, swissinfo.ch

Die Broschüre zeigt Zusammenhänge zwischen Sexualerziehung und Kinderschutz vor sexueller Gewalt auf und gibt Eltern sowie anderen Bezugspersonen praxisnahe Informationen, wie sich Kinder psychosexuell entwickeln, und welche Rolle dabei den Eltern zukommt.

Auch das Reden mit den Kindern über Sexualität, der Umgang mit kindlichen Doktorspielen oder die Frage, was den Kindern zugemutet werden kann und wo die Grenzen liegen, wird praxisnah und anhand von vielen Beispielen behandelt.

Die auf Deutsch erhältliche Broschüre wird von Mütter- und Väterberatungen kostenlos abgegeben. Ab 2010 ist sie auch in französischer und italienischer Sprache erhältlich.

Eine Auswertung der im Kinderspital Zürich gemeldeten 1484 Fälle von Kindsmisshandlung in den Jahren 2003 bis 2006 hat ergeben, dass männliche Erwachsene mit 54% mehr als die Hälfte der Täter beziehungsweise Tatverdächtigen ausmachen.

Zusammen mit den 20% männlichen Minderjährigen sind insgesamt 74% der Täter und Tatverdächtigen männlichen Geschlechts, wie den Angaben der Kinderschutzgruppe zu entnehmen ist. 24% der Täterschaft sind Erwachsene und 2% Minderjährige weiblichen Geschlechts.

Am häufigsten werden sexuelle Übergriffe gemeldet, und zwar mit einem Anteil von 38,3% aller Fälle. Sexuelle Übergriffe werden meist von Personen ausserhalb der Familie verübt, obschon bisher allgemein angenommen wurde, dass die meisten Misshandlungen innerhalb der Familie geschehen. Die Kinderschutzgruppe vermutet allerdings, dass Opfer von sexuellen Übergriffen aus dem Familienumkreis weniger an das Kinderspital und eher an eine spezifische Opferhilfestelle gelangen.

Kindsmisshandlung kommt laut der Kinderschutzgruppe in allen Schichten vor. In höheren Schichten ist sexuelle Ausbeutung eher häufiger, während in tieferen Schichten körperliche Misshandlung relativ häufiger vorkommt.

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