In diesem Sommer – genauer am 5. Juli – feierte die Schweizerische Volksinitiative ihren 125. Geburtstag. Das Jubiläum ging ohne grosse Festivitäten über die Bühne. Erstaunlich, wenn man bedenkt, welche Berühmtheit die "alte Dame" weitherum geniesst und mit welchem Stolz die offizielle Schweiz sich immer wieder gerne auf sie beruft.
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Markus Müller, Staats- und Verfassungsrechtler, Universität Bern
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Le peuple devrait donner des impulsions, pas édicter des lois
Wenn schon keine grosse Feier, so soll das Jubiläum doch wenigstens zum Nachdenken anregen: Welches ist eigentlich die Rolle des Volkes (und seiner Initiative) im Zusammenspiel der demokratischen Kräfte? Und damit in direktem Zusammenhang: Wie soll die Initiative sinnvollerweise ausgestaltet sein?
Art. 139 Abs. 2 Bundesverfassung (BV) sieht heute für die Volksinitiative zwei Formen vor: den ausgearbeiteten Entwurf und die allgemeine Anregung. Gebrauch gemacht wird allerdings fast ausschliesslich von der Form des ausgearbeiteten Entwurfs. Sie erlaubt den Initianten, einen fixfertigen Verfassungstext zur Abstimmung zu bringen. Geht es einzig darum, den 1. August zum arbeitsfreien Sonntag zu erklären (Art. 110 Abs. 3 BV), klappt dies gut.
Solche «simplen» Volksbegehren sind freilich selten. Heute sind es meist komplexe Problemstellungen, die zum Gegenstand einer Volksinitiative gemacht werden. Dafür einen Verfassungstext auszuarbeiten, der rechtlich, politisch und sprachlich ausgereift ist und sich ohne grössere Schwierigkeiten umsetzen lässt, überfordert die Initianten zunehmend.
Die langwierigen Diskussionen und Begleitgeräusche rund um die Umsetzung jüngerer Begehren (z.B. Zweitwohnungs-, Ausschaffungs-, Abzocker-, Masseneinwanderungsinitiative) zeigt dies mit aller Deutlichkeit. Das «Volk» kann keine professionelle Rechtssetzungsarbeit leisten. Seine Rolle ist eine andere: Als Impulsgeber, konstruktiver Störenfried oder Kontrollinstanz darf und soll es sich in die Politik einmischen. Die Initiative in der (vernachlässigten) Form der allgemeinen Anregung gibt ihm dazu das passende Instrument in die Hände.
Damit können den Behörden Ziele gesetzt werden, die je nachdem einmal grob, das andere Mal etwas präziser umschrieben sind. Immer aber sind die Ziele verbindlich und das «Ob» der Zielerreichung steht nicht zur Disposition (der Begriff «Anregung» weckt fälschlicherweise den Eindruck, es gehe um blosse Wünsche oder Petitionen).
Das «Wie» der Zielerreichung hat sodann die Bundesversammlung zu definieren und einen passenden Verfassungstext zu formulieren. Sie verfügt – im Gegensatz zur Bevölkerung – über die notwendigen Ressourcen, um die politischen und rechtlichen Konsequenzen einer «Volksanregung» sorgfältig abzuklären. Diese Rollenverteilung bedingt allerdings Vertrauen in die Arbeit der Behörden. Ohne dieses Vertrauen kann eine Demokratie aber sowieso nicht funktionieren.
Berücksichtigt man – ganz nüchtern – die realen Möglichkeiten des «Volkes», kann dies für die Form seiner Initiative nur eines bedeuten: Der allgemeinen Anregung ist gegenüber dem ausgearbeiteten Entwurf den Vorzug zu geben. Das führt nicht – wie gelegentlich befürchtet wird – zu einem Abbau von Demokratie, höchstens von Scheindemokratie. Denn letztlich zeugt es von einem eigentümlichen Demokratieverständnis, die Stimmbevölkerung über selbst ausgearbeitete (vermeintlich klare) Verfassungstexte abstimmen zu lassen, an deren Umsetzung die Politik dann jahrelang herumschraubt.
Solches steigert nicht eben das Gefühl, ernstgenommen zu werden. Und wer sich nicht ernstgenommen fühlt, empfindet wenig Lust, am «Spiel» der direkten Demokratie zu partizipieren. Die Stimmbeteiligung, die sich in der Schweiz seit längerem bei rund 45% eingependelt hat, müsste auch unter diesem Gesichtswinkel zu denken geben.
Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten sind ausschliesslich jene des Autors und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.
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