Fünf Lehren dieser AHV-Abstimmung
Die Annahme der Initiative für eine 13. AHV-Rente ist eine grosse Überraschung. Die breite Ablehnung der Erhöhung des Rentenalters war hingegen viel vorhersehbarer. Fünf Erkenntnisse aus der Abstimmung zu den AHV-Initiativen.
1. Die SVP testete die Solidarität mit der Fünften Schweiz
Die Debatte – auch auf unserer Plattform SWI swissinfo.ch – lief heiss, nachdem die Schweizerische Volkspartei SVP im Abstimmungskampf jene Renten ins Visier nahm, welche ins Ausland fliessen. Die Partei setzte darauf, dass das Stimmvolk im Inland den Rentner:innen im Ausland eine Rentenerhöhung nicht gönnen würde. Das ging nicht auf. Die SVP hatte die Rechnung ohne die Auslandschweizer:innen gemacht.
Diese machen einen Drittel der Auslandrentner:innen aus, und sie können – anders als die rückgewanderten Fremdarbeiter:innen – in der Heimat mitreden. Gross war das Unverständnis in diesem Segment, das eine Kraft von 220’000 Stimmen hat.
Denn letztlich testete die SVP damit auch den Zusammenhalt der Schweiz. Sie stellte die Frage, ob die vier Landesteile – Deutschschweiz, Romandie, italienischsprachige und rätoromanische Schweiz – noch zur Fünften Schweiz, zu den 800’000 Ausgewanderten stehen. Die Antwort darauf bleibt offen.
Doch die Frage allein markiert einen Tabubruch. Der Test kann nun mit jedem weiteren Thema wiederholt werden. Die Solidarität der Schweiz mit ihren Ausgewanderten, die 2015 zum Auslandschweizer-Gesetz geführt hat, steht bei der grössten Partei im Land wieder zur Disposition. Nach nur zehn Jahren sind die erkämpften Privilegien erneut zu verteidigen. Die Lobby-Arbeit der Auslandschweizer-Organisation ASO wird damit wichtiger.
Doch es gibt noch 350’000 Rentenbezüger:innen im Ausland, die keine Schweizer Staatsbürgerschaft haben, all die einstigen Fremdarbeiter:innen in Portugal, Spanien und Italien, die zurückgewandert sind. Sie sind im Gegensatz zu den Auslandschweizer:innen nicht organisiert, haben keine Lobby und kein Stimmrecht. Ihre Renten bleiben leichte Beute.
Alle fortlaufenden Resultate des heutigen Abstimmungssonntags finden Sie hier:
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Wie eine AHV-Initiative die Schweizer Stimmberechtigten überzeugte
2. Dank Teuerung gewann diese einfache Initiative auch konservative Kreise
Die Abstimmung über die 13. AHV-Rente hat die Schweizerinnen und Schweizer begeistert. Die Wahlbeteiligung lag bei 58.3% und damit weit über dem Normalwert.
Die Debatten waren besonders lebhaft. Laut einer von der Universität Zürich durchgeführten Zählung hatte eine Abstimmungsvorlage noch nie so viele Artikel in der Schweizer Presse ausgelöst.
Im Jahr 2016 war eine ähnliche, von der Linken lancierte Vorlage – sie forderte eine Erhöhung der ersten Säule um 10 Prozent – an der Urne jedoch weitgehend gescheitert. Die Inflation und der Anstieg der Lebenshaltungskosten haben der Linken den nötigen Auftrieb gegeben, um die erste AHV-Initiative der Geschichte zum Erfolg zu bringen.
Die Vorlage ist leicht verständlich, und sie wurde von einem aussergewöhnlichen Tribun, Pierre-Yves Maillard, dem mächtigen Präsidenten des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), portiert. Er verstand es, den Geldbeutel der Rentner:innen anzusprechen, einer Wählerschaft, die traditionell fleissiger an die Urnen geht als andere Generationen.
Vielleicht war es aber auch ein anderes, in konservativen Kreisen sehr beliebtes Argument, das die rechtsgerichteten Bastionen des Landes, insbesondere in der Deutschschweiz, zum Einsturz brachte: Wenn man Milliarden für Entwicklungshilfe und Flüchtlinge im Inland ausgeben kann, dann sollte man das auch für die Rentner:innen tun.
Selbst die erfahrensten Politolog:innen des Landes sind verwirrt: Noch nie hat eine Initiative der Linken und der Gewerkschaften so viel Sympathie bei den rechten Wähler:innen geweckt.
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3. Der Kampf um den Platz des Staates im Rentensystem stand im Mittelpunkt
Im Vordergrund standen an diesem Sonntag auch zwei Visionen über die Rolle des Staates im Rentensystem. Die Linke wollte die AHV-Rente als die Solidarischste der drei Säulen der Altersvorsorge stärken und den Platz für die zweite Säule verringern.
Denn anders als bei der AHV spielt der Staat bei der zweiten Säule praktisch keine Rolle. Die Gelder der beruflichen Vorsorge, die von Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmenden bezahlt werden, werden von privaten Pensionskassen verwaltet. Etwa 1200 Milliarden Franken an Altersguthaben werden jedes Jahr auf den Finanzmärkten angelegt. Ein Dorn im Auge des linken Lagers.
Dennoch wird die Idee der Privatisierung eines Grossteils der Altersvorsorge in der Schweiz hoch geschätzt. Pensionskassen und Banken – die in der dritten Säule, der privaten Vorsorge, tätig sind – profitieren davon und versuchen systematisch, jeden Ausbau der AHV zu torpedieren.
Die Allianz «Nein zu einer 13. AHV-Rente» hatte gemäss Ankündigung ein Budget von 3,56 Millionen Franken für die Kampagne, mehr als doppelt so viel wie die Gewerkschaften und ihre Verbündeten investiert haben (1,54 Millionen).
Geld ist zwar nicht alles, aber es hat den Gegner:innen der Vorlage ermöglicht, überall ihr Hauptargument zu verbreiten: Dass die 13. AHV damit das Geld mit der Giesskanne verteile, auch an diejenigen, die es nicht brauchen.
Doch das Argument eines übermässigen staatlichen Eingriffs hatte diesmal ausnahmsweise keinen Erfolg: Zum ersten Mal seit 45 JahrenExterner Link wurde in einer Volksabstimmung ein Ausbau der AHV angenommen.
4. Das Ständemehr wurde wieder überschätzt
Bezogen auf die Schweizer Demokratie hält die Abstimmung über die 13. AHV-Rente ein Fazit bereit, das man nicht deutlich genug ziehen kann: Das Ständemehr wird überschätzt. Die allgemeine Zustimmung zum Ausbau der 1. Säule war ab Start der Abstimmungskampagne hoch, dann rückläufig, wie dies bei Volksinitiativen üblich ist. Bis zuletzt aber zweifelten die Kommentator:innen, ob die Vorlage nicht noch an den Ständen scheitern würde.
Ein Blick in die rund 175-jährige Geschichte der modernen Schweiz zeigt indes: Das ist erst zehn Mal vorgekommen. Und nur in zwei Fällen handelte es sich um eine Volksinitiative: 2020 scheiterte die Konzernverantwortungsinitiative, 1955 die Mieterschutzinitiative an der Ablehnung der Kantone. In den acht anderen Fällen waren es Bundesbeschlüsse, die am Widerstand insbesondere der Deutschschweizer Kleinkantone abprallten, wie 2012 der Bundesbeschluss über die Familienpolitik.
Dass Stimmenmehrheit und Stände übereinstimmen, ist also die Norm. Und in diesem Fall kam hinzu, dass auch konservative, betagte Stimmberechtigte, wie sie für das Resultat in den Kleinkantonen oft bestimmend sind, bei der 13. AHV-Rente individuell etwas zu gewinnen hatten.
Das Resultat zeigt nun: Der «falsche», weil linke Absender der Initiative zählt weniger als die eigenen monetären Interessen. Es ist ein Lehrstück in direkter Demokratie: Mit dem richtigen Vorteilsversprechen können Gewerkschaften selbst im SVP-Lager Stimmen holen.
5. Ein höheres Rentenalter scheint keine Lösung, solange Ältere kaum Arbeit finden
Die Schweiz sieht sich gerne als ein Land, in dem hart gearbeitet wird. Und auch wenn das Bild der akribischen und fleissigen Schweizer:innen internationalen Vergleichen nicht immer standhält, spiegelt sich der Wert, der der Arbeit beigemessen wird, regelmässig in den Ergebnissen von Volksabstimmungen.
So zum Beispiel, als es darum ging, die Bedingungen für den Bezug von Arbeitslosengeld zu verschärfen (2010) oder die Einführung von sechs Wochen Ferien für alle abzulehnen (2012).
Nun haben die Schweizer:innen am Sonntag mit einer sehr deutlichen Mehrheit «Nein» zur Initiative der Jungliberalen gesagt, die das Rentenalter auf 66 Jahre anheben und dann an die Lebenserwartung koppeln wollte.
Das Rentenalter von 65 Jahren, das bei der Einführung der AHV im Jahr 1948 festgelegt wurde, erscheint als unumstössliches Totem. Eine Entscheidung, die paradox erscheinen mag, wo doch viele Länder ihre Bürger:innen bereits über diese Schwelle hinaus arbeiten lassen, um der steigenden Lebenserwartung und der Alterung der Bevölkerung entgegenzuwirken.
Die Erklärung dafür ist auf dem Arbeitsmarkt zu finden. Die Schwierigkeiten, die ältere Menschen in ihrem Berufsleben haben, und die Probleme, wieder einen Job zu finden, wenn sie arbeitslos werden, sind die beiden am häufigsten genannten Argumente für das «Nein» am Sonntag, wie Meinungsumfragen schon im Vorfeld der Abstimmung deutlich machten.
In der Schweiz ist das Problem besonders akut. 54% der von Langzeitarbeitslosigkeit betroffenen Personen sind zwischen 55 und 64 Jahre alt, wie aus Daten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECDExterner Link) hervorgeht. Dieser Anteil ist um 11 Prozentpunkte höher als im Durchschnitt der OECD-Länder (43%).
Die Neue Zürcher Zeitung wies während der Kampagne auf die Verantwortung der Arbeitgeber:innen und insbesondere auf die hartnäckigen Vorurteile der Personalverantwortlichen gegenüber dieser Altersgruppe hin, die als weniger innovativ und flexibel gilt, und dies trotz Studien, die das Gegenteil belegen.
«Unternehmen können viel tun, um die altersbedingte Diskriminierung, die auf dem Arbeitsmarkt weit verbreitet ist, zu verringern. Sie betreffen nicht nur die Einstellung, sondern auch den Zugang zur Ausbildung», sagt Shruti Singh, Ökonomin bei der OECD und verantwortlich für die Arbeit im Bereich der Alterungs- und Beschäftigungspolitik. Es bleibt abzuwarten, ob der Appell an die Verantwortung der Unternehmen ausreicht, um die Situation zu ändern – oder ob es bindende Massnahmen braucht. Andernfalls wird auch die nächste Abstimmung über die Erhöhung des Rentenalters scheitern.
Nach der Annahme der 13. AHV-Rente muss die Schweiz über die Finanzierung reden, welcher Ansatz ist der richtige? Diskutieren Sie mit:
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Editiert von Mark Livingston
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