17. Juni 1953 in der DDR
"Danach gab es eine gewisse Zeit eine gewisse Lockerung", erinnert sich die 82-jährige Hildegard Hahn, wenn sie nach 50 Jahren an den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR denkt.
Die Schweizerin aus Wattwil im Kanton St. Gallen und ihr Mann Werner hatten damals von den tragischen Ereignissen fast nichts mit bekommen. In Dresden sei alles nicht so schlimm gewesen.
In der Tat war die Beteiligung in Dresden, das in späteren Jahren in der restlichen DDR als «Tal der Ahnungslosen» verspottet wurde, weil man dort kein West-Fernsehen empfangen konnte, am geringsten.
Die Zentren des Aufstandes waren Berlin sowie die Regionen mit Schwer- oder Chemieindustrie um Bitterfeld, Wolfen und Leuna.
Werner Hahn erinnert sich noch, dass er an jenem Morgen Milch holen gegangen und dabei in eine Kontrolle geraten sei. Von den Protestaktionen habe er dann erst so richtig im Laufe des Tages im Betrieb erfahren.
«Leute, macht keinen Unsinn»
Hahn arbeitete damals beim seinerzeit auch im Westen bekannten Fotoapparate-Hersteller Pentacon. Die Firmenleitung habe erklärt, Leute macht keinen Unsinn, arbeitet weiter.
Auch auf dem Weg nach Hause, sagt Hahn, habe er nichts Ungewöhnliches festgestellt. Allerdings habe er auch nur einen kurzen Arbeitsweg gehabt.
Im Radio habe er dann gehört, dass es anderswo in der Stadt, beim Maschinenbauer Sachsenring, Demonstrationen gegeben habe.
Auch für Hildegard Hahn war der 17. Juni 1953 «nichts Besonderes. In Dresden war wirklich nicht viel los, in anderen Städten war das anders».
«Die Verhältnisse waren eben so»
Sie war 1948 zusammen mit ihrem Mann nach Dresden gekommen, weil sie die Schweiz hatten verlassen müssen. Eigentlich wären sie lieber im Land der Berge und Täler geblieben.
Doch das ging aus juristischen Gründen nicht. «Die Verhältnisse waren eben so», meint Werner Hahn lapidar. Doch er hegt deswegen keinen Groll gegenüber der Schweiz.
Ganz im Gegenteil. Er ist der Schweiz dankbar: «Ich betrachte die Schweiz ein bisschen als meinen Lebensretter.»
In der Schweiz interniert
Kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges hatte Hahn sich bei Kampfhandlungen in der Nähe von Basel auf Schweizer Gebiet verirrt und war interniert worden.
Er sei allerdings wesentlich besser behandelt worden als Wehrmachtsdeserteure und habe sich relativ frei bewegen können, erläutert Hahn. Politische Tätigkeit sei ihm zwar verboten gewesen, aber er habe durchaus am Abend im Wirtshaus ein Glas Wein trinken können.
Als «Feuerwerker» bei der Wehrmacht habe ihn die Schweiz als Sprengmeister eingesetzt, erzählt Hahn. Einer dieser Einsätze habe ihn ins Maggia-Tal geführt.
Und wie das Leben so ist, lernte er dann bei einem Tanzabend in Ascona seine heutige Frau kennen. Zwei Jahre später heirateten die beiden.
Nicht mit dem Schicksal hadern
Eine Aufenthaltsgenehmigung in der Schweiz hätte Hahn nur bekommen, wenn er zuvor ausgereist wäre, um sich dann dafür zu bewerben. Aber er hatte im Westen keine Verwandtschaft.
Und im russisch besetzten Teil sei es illusorisch gewesen, auf eine Ausreisegenehmigung zu hoffen. Also entschied die junge Familie Hahn sich dafür, nach Dresden zu ziehen.
Die Hahns hadern nicht mit ihrem Schicksal. Es sei ihnen relativ gut gegangen. Wirtschaftlich hätten sie keine Not gelitten, sagt Hahn.
Als Entwicklungsingenieur durfte er zwar oft in den Westen reisen, nach Westdeutschland und Österreich, aber nicht in die Schweiz. Und er durfte immer nur allein ins Ausland. Die Familie musste als «Pfand» zu Hause bleiben.
Trotz Mauerbau zurück in die DDR
Bis 1961 war es mit Fahrten in die Schweiz kein Problem gewesen. Am 12. August, einen Tag vor dem Mauerbau, war die Familie Hahn mit ihren beiden Kindern für viele Jahre zum letzten Mal in die Schweiz gereist.
Trotz Mauerbau kehrten sie im September wieder zurück. «Niemand im Westen konnte begreifen, dass wir in die DDR zurück wollten», sagt Hildegard Hahn heute.
«Als wir mit dem Auto an der Grenze vorfuhren, konnten das die amerikanischen Grenzsoldaten nicht verstehen. Und die Behörden der Bundesrepublik Deutschland wollten uns sogar die Durchfahrt verweigern.»
Vierzimmer-Wohnung und Auto
Doch für die Hahns hatte sich die Lebenssituation mit dem Bezug einer Vierzimmer-Wohnung 1957 und dem Erhalt des lange ersehnten Autos 1961 entscheidend verbessert.
Anfangs sei das Leben in der DDR nicht einfach gewesen, erzählt Hildegard Hahn. Ihre Eltern hätten immer Pakete geschickt, zum Beispiel Kaffee. «Der war so wahnsinnig teuer hier.»
Später habe es dann Gutscheine gegeben, mit denen man in der DDR einkaufen konnte.
Nach der Wende wollte er nicht mehr
Nach der Wende hätte Werner Hahn die Schweizer Staatsbürgerschaft beantragen können, wie das die meisten mit Schweizer Vorfahren in Ostdeutschland getan haben. Aber da wollte er nicht mehr.
«Wenn ich jünger gewesen wäre…», sinniert er heute. «Aber ich habe mich zu alt gefühlt.» Und widerstand dem Drängen des damaligen Dresdener Generalkonsuls.
Nichtsdestoweniger gründete er dann zusammen mit anderen den Schweizer Verein Dresden wieder und war auch für einige Jahre Präsident.
Helmut Uwer, Berlin
Um den 17. Juni 1953 war es in der damaligen DDR zu grossen Protesten gekommen. Mehr als eine Million Menschen ging auf die Strasse. Der Aufstand dauert nicht lange, am 17. Juni rollen sowjetische Panzer durch die Strassen und walzen die Revolte nieder.
Die Proteste waren der erste grosse Aufstand nach dem Zweiten Weltkrieg im Machtbereich der damaligen Sowjetunion. Die genaue Zahl der Opfer ist bis heute offen. Allerdings weiss man heute aufgrund von Archivmaterial der DDR und der Sowjetunion, dass es an rund 700 Orten Proteste gab.
Etwa 90 Menschen starben bei der Niederschlagung der Proteste, mehr als 2000 wurden festgenommen und abgeurteilt, mindestens 20 hingerichtet.
Die Bundesrepublik konnte nichts unternehmen, sie musste dem Aufstand machtlos zusehen. Bis zur Wiedervereinigung 1990 wurde der 17. Juni in der BRD dann zum Feiertag, auch wenn er für die Menschen immer mehr an Bedeutung verlor.
In der DDR war das Datum vom 17. Juni 1953 tabu. Die SED-Spitze bezeichnete die Proteste als «faschistischen Putschversuch» und zog die Schrauben noch fester, jeder Dissens wurde unterdrückt, im August 1961 folgte die Berliner Mauer, mit welcher der «Arbeiter- und Bauernstaat» seine Bevölkerung mit Minenfeldern und Stacheldraht einzäunte. Bis zum Fall der Mauer vergehen nochmals fast 30 Jahre.
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