5. Schweiz bereitet sich auf Parlamentswahlen vor
Die Parlamentswahlen vom 23. Oktober 2011 sorgen auch für Diskussionen unter Auslandschweizern. Zu reden geben die Wirtschaft und die Beziehungen zur EU. Das hat eine Umfrage von swissinfo.ch am Auslandschweizer-Kongress Ende August ergeben.
«Als ich die Schweiz 1954 verlassen habe, hatte ich kein Stimmrecht», sagt Marianne Richardson, die im US-Bundesstaat Kalifornien lebt. «Seit der Einführung des Frauenstimmrechts 1971 habe ich nicht eine einzige Abstimmung verpasst!»
Wie diese Auslandschweizerin verfolgen die Ende August am Auslandschweizer-Kongress in Lugano angetroffenen Delegierten der Auslandschweizer-Organisation (ASO) die Politik in ihrem Ursprungsland sehr genau.
Trotz manchmal schwierigen Bedingungen wählen und stimmen sie per Brief, während sie auf die Einführung des E-Voting warten, das die ASO für die nächsten Wahlen 2015 anstrebt.
Gian Franco Definti, der seit 50 Jahren im norditalienischen Mailand lebt, schätzt besonders die Beziehungen zwischen der Schweiz und den europäischen Staaten als etwas problematisch ein: «Ich finde, Bern handelt zögernd oder sogar schüchtern in seinen internationalen Beziehungen, besonders mit Italien. Die Schweiz muss einen Weg finden, sich mit der EU zu arrangieren, und ich sehe keine Alternative zu den Bilateralen Verträgen.»
Freier Personenverkehr in Frage
Dass das Thema «Bilaterale Verträge» häufig genannt wird, ist kein Zufall, lebt doch ein Grossteil der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer in EU-Ländern. «Als Direktor der Handelskammer Schweiz-Polen stelle ich erfreut fest, dass wir gleich behandelt werden», sagt Ulrich Schwendimann. «Ich bin zwar nicht für einen EU-Beitritt, aber sehr zufrieden mit den Bilateralen Verträgen.»
Er ist besorgt über die Initiative der Schweizerischen Volkspartei (SVP) gegen die Personenfreizügigkeit. «Ich finde es erstaunlich, dass die stärksten EU-Gegner eine Kehrtwende machen, doch besonders fürchte ich mich vor der ‹Guillotinen-Klausel›, welche die Bilateralen Verträge nichtig machen würde.»
Daniel Tornare, geboren im französischen Lyon, wohin dessen Eltern in den 1930er-Jahren gezogen waren, pflichtet ihm bei: «Es ist wahr, dass Genf eine noch nie gesehene Kriminalitätsrate hat und es nicht genügend Kontrollen gibt, doch im Gegenzug haben Schweizerinnen und Schweizer in der EU eine grosse Freiheit. Was wird aus ihnen, wenn man ihnen diese wegnimmt?»
Anderer Meinung ist die Kalifornierin Marianne Richardson: «Meine Herkunftsfamilie lebt im Vallée de Joux und sieht jeden Tag Kolonnen von Grenzgängern durchfahren, die im Jura arbeiten. Das macht mir Sorgen.»
«Gute» und «schlechte» Ausländer
Karl Frei aus Mexiko protestiert gegen «jene, die extreme Dinge vorschlagen, auch wenn sie wissen, dass sie damit nicht durchkommen, um damit einige Stimmen von Leuten zu gewinnen, die sich vor der Einwanderung fürchten».
Die Schweiz sei manchmal zu grosszügig mit Leuten, die behaupteten, sie würden in ihrem Land verfolgt. «Einige Exzesse haben negative Schlagzeilen gemacht, was zu Generalisierungen führte. Man muss mit extremistischer Propaganda aber sehr vorsichtig umgehen. Es ist wahr, dass die Kriminalität zugenommen hat, aber man sollte die Politik nicht dahingehend ändern, sondern eher die Gesetze besser anwenden», sagt Frei.
Jean-Rodolphe Lüthi, seit 32 Jahren in Kalifornien, ist gleicher Meinung: «Ich bemerke die Veränderungen, die Graffitis, die Ausländer, die sich eine AHV- oder IV-Rente erschleichen, all diese Flüchtlinge, die das Bild der schönen Schweiz verändern. Die Regierung scheint das als normal anzusehen, aber ich sehe auch, dass viele Schweizer nicht reich sind und Probleme haben. Ich lebe in den USA und bin gegen Diskriminierung. Aber man muss die Ordnung aufrechterhalten.»
Gemischte Prognosen
Daniel Tornare bedauert die Veränderungen der letzten Jahre, mit «dem kometenhaften Anstieg der Rechten in Österreich oder in Frankreich mit dem Front National. Das macht Angst, und man sollte es nicht zu weit treiben».
Gian Franco Definti hingegen sieht diese Veränderungen in einem positiven Licht: «Es gibt mehr Debatten, auch lebhaftere, und die Probleme werden direkter angegangen, mit konkreteren Lösungen. Die Parteien der traditionellen Rechten (Freisinnig-Demokratische Partei, FDP und Christlichdemokratische Volkspartei, CVP) hatten bisher zu viel Macht. Jetzt hat sich die Politik auf weitere Parteien ausgeweitet.»
Pierino Lardi, seit 8 Jahren in Venezuela, ist der Meinung, solche Veränderungen gehörten zu einer direkten Demokratie. «Meiner Meinung nach ist die Entwicklung der letzten zehn Jahre nur vorübergehend, weil sie von Ereignissen beeinflusst wurde. Die SVP konnte davon profitieren und ihren Populismus schüren, doch ich bezweifle, dass sie im Oktober noch mehr zulegen kann.»
Im Gegensatz dazu vermutet Johann Dähler, der in Costa Rica lebt und dort eine SVP-Sektion gegründet hat, dass seine Partei noch weitere Wähleranteile dazugewinnen wird. «Nicht, weil sie besser ist, sondern weil sie als einzige Partei begriffen hat, was das Volk will.»
Gian Franco Definti sieht einen erneuten kleinen Rückgang bei FDP und CVP, kein Vorwärtskommen bei den Linken und noch etwas Terraingewinn für die SVP. «Ich erwarte keine grossen Veränderungen. Es wird immer zwei Kammern geben, die recht gut funktionieren, mit fähigen Persönlichkeiten, da bin ich mir sicher.»
Pierino Lardi hofft, dass «die traditionellen Mitteparteien ein wenig an Boden gutmachen, von dem sie in den letzten vier Jahren verloren haben». Wie auch Ulrich Schwendimann, der bedauert, dass die Mitte wegbricht. «Doch glücklicherweise sind die Konsequenzen dieses Prozesses in der Schweiz nicht radikal, weil man weiterfahren wird, den Konsens zu suchen. Daher erwarte ich keine Revolution», sagt er lachend.
Schweizerische Volkspartei SVP:
Rund 50 Kandidierende auf 8 separaten Wahllisten für Auslandschweizer in den Kantonen Aargau, Basel-Stadt, Genf, Graubünden, Schaffhausen, Solothurn, Schwyz und Zürich.
Sozialdemokratische Partei SP:
14 Kandidaten auf 3 Listen für die Fünfte Schweiz in den Kantonen Genf, Schaffhausen und Zürich.
Grüne Partei der Schweiz:
6 Kandidaten auf einer separaten Wahlliste im Kanton Genf.
Christlichdemokratische Volkspartei CVP:
4 Kandidierende auf einer Liste für Auslandschweizer im Kanton Genf.
FDP.Die Liberalen:
3 Kandidaten auf den normalen Wahllisten der Partei in Basel-Stadt und Zürich.
Bürgerlich-Demokratische Partei Schweiz BDP:
1 Kandidat auf der Liste im Kanton Schwyz.
Um an den eidgenössischen Wahlen teilzunehmen, müssen sich die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer in ein Wahlregister eintragen. Wählen können sie in ihrer letzten Wohngemeinde in der Schweiz oder in ihrem Heimatort.
Die Landsleute im Ausland können in allen 26 Kantonen den Nationalrat wählen oder sich in die Grosse Kammer wählen lassen. Für den Ständerat, die Kleine Kammer, haben sie diese Rechte jedoch nur in 11 Kantonen.
Seit 1992 die schriftliche Stimmabgabe eingeführt wurde, hat die politische Partizipation aus der Fünften Schweiz stark zugenommen. Ende 2010 waren 135’877 Auslandschweizer im Stimm- und Wahlregister eingetragen.
An den letzten nationalen Wahlen 2007 hatten 44 Ausland-Schweizer für den Nationalrat kandidiert. Keinem von ihnen gelang jedoch der Sprung in die Grosse Kammer.
(In Zusammenarbeit mit Marcela Aguila, Sonia Fenazzi, Fernando Hirschy und Etienne Strebel)
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