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Die Medien stürzen sich auf die falschen Themen

"Die Rolle der Medien in der direkten Demokratie" als Zugpferd: Volles Haus an beiden Aarauer Demokratietagen 2017 zu einem hochaktuellen Thema. Romeo Basler/ZDA

Die Vorlagen, über welche die Schweizerinnen und Schweizer viermal pro Jahr an der Urne abstimmen, können schon mal hoch kompliziert sein. Da kommt den Medien für die fundierte Meinungsbildung eine wichtige Rolle zu. Bei verständlichen und polarisierenden Vorlagen dagegen machen die Bürger ihre Meinungen selber. Das zeigen Studien, die Forscher an den jüngsten Aarauer Demokratietagen vorstellten.

Die Unternehmenssteuerreform III, die das Schweizer Stimmvolk im Februar ablehnte, war ein ganz harter Brocken. Ausser Finanzexperten kannte wohl niemand den genauen Inhalt der Vorlage.

Auch nicht Peter Wanner, Verleger der AZ Medien, die mehrere Zeitungen im Schweizer Mittelland herausgibt. Er hätte die Vorlage ablehnen sollen, sagte Wanner in einer Podiumsdiskussion an den Aarauer Demokratietagen 2017. Drei Wochen vor der Abstimmung habe er brieflich ein Ja eingelegt. Aber nach einem Interview von Ex-Finanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf in einer Sonntagszeitung, das im Abstimmungskampf hohe Wellen geworfen hatte, bereute der Aargauer Medienunternehmer seinen Entscheid.

Linards Udris: Bei emotionalen Vorlagen machen die Stimmbürger ihre Meinungen und nicht die Medien. Sarah Buetikofer/DeFacto

«Aufgrund des Interviews, in dem Eveline Widmer-Schlumpf sagte, dass die Vorlage nicht ausbalanciert sei, sowie aufgrund anderer Expertenstimmen merkte ich: ‹Aha, diese Vorlage stimmt nicht ganz!»‹

Zu komplex, zu überladen, zu einseitig auf die grossen internationalen Unternehmen ausgerichtet sei die Reform gewesen, monierte das Lager der siegreichen Kritiker.

Die Informationslage war in der Tat verwirrend: Mit der Drohgebärde von grossen Steuerschulden auf dem Buckel der Bürger argumentierten sowohl die Befürworter als auch die Gegner. Jedes Lager präsentierte andere Fakten. Es war eine riesige Herausforderung für die Bürger als Laien, sich bei der Unternehmenssteuerreform III eine Übersicht über die Argumente zu verschaffen. Und es war auch ein Lackmustest für die direkte Demokratie.

Doch gerade bei anspruchsvollen Themen wie der Unternehmenssteuerreform III kommt Medien eine Schlüsselrolle in der Aufklärung zu, wie Professor Laurent BernhardExterner Link am zweiten Tag der Veranstaltung in Aarau ausführte, der im Zeichen einer Forschungstagung stand.

Bernhard präsentierte seine These anhand der Resultate von drei Abstimmungen. Es waren dies die Unternehmenssteuerreform II, die Asylgesetzrevision (2006) und die Einbürgerungsinitiative (2008).

Dabei hatte die Medienberichterstattung über die zweite Unternehmenssteuerreform den Entscheid der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger stärker geprägt als die Asyl- und die Einbürgerungsvorlage.

Je polarisierter die Vorlage, desto geringer der Einfluss der Medien

Somit ist der Einfluss der Medien laut dem Politikwissenschaftler Bernhard bei wenig vertrauten und abstrakteren Vorlagen gross. «Hingegen widerstehen die Bürger bei leichter verständlichen Inhalten der Macht der Medien», so das Fazit von Bernhard.

Doch gerade auf diese emotionalen Brennpunkte stürzen sich die Medien mit Vorliebe. Linards UdrisExterner Link zeigte auf, dass die Resonanz besonders bei konfliktreichen, zugespitzten Vorlagen gross ist. Die Medien reagieren besonders auf spektakuläre Kampagnen von Komitees, wie der Professor für Politik anhand der Untersuchung von 42 Abstimmungsvorlagen zeigte, die das Forschungsinstitut Öffentlichkeit und Gesellschaft fög der Universität Zürich im «Abstimmungsmonitor»Externer Link analysierte.

Spitzenreiter in Sachen Medienpräsenz war die Masseneinwanderungsinitiative mit 425 Beiträgen während der ganzen Abstimmungsphase. Sie erzielte ein rund zwölf Mal so starkes Echo wie etwa das Referendum gegen längere Öffnungszeiten von Tankstellenshops. Mit anderen Worten: Je höher der Populismusgehalt und je mehr sich eine Vorlage um Ausländer dreht, desto mehr Artikel werden geschrieben.

Aarauer Demokratietage 2017

Mit diesem Beitrag schliesst #DearDemocracy die Berichterstattung von den 9. Aarauer Demokratietagen ab. Die Veranstaltung des Zentrums für Demokratie Aarau (ZDA) fand am 16. und 17. März zum Thema «Die Rolle der Medien in der direkten Demokratie» statt.

#DearDemocracy, die Demokratie-Plattform von swissinfo.ch war Medienpartner der Veranstaltung.

Die Podiumsdebatte vom 16. März übertrugen wir im Livestream. Diesen finden Sie in voller Länge hier.

Sisyphusrolle

Doch genau bei solch emotionalen Vorlagen haben die Bürger ihre Meinungen meistens schon früh gemacht. Es stellt sich also die Frage, ob die Medien nicht Sisyphusarbeit betreiben, wenn sie mit ihren Beiträgen beim Stimmvolk eh nichts mehr ausrichten können? Linards Udris, der stellvertretende Leiter des fög relativiert: «Natürlich wäre es gut, wenn die Medien sich vermehrt auch weniger knackigen Themen zuwenden würden. Aber man darf den Mobilisierungsaspekt für die Stimmbürger nicht unterschätzen bei der Berichterstattung über Vorlagen wie der MEI.»

Noch mehr verschärfen könnte sich diese Diskrepanz zwischen Medienresonanz und Medieneinfluss allerdings durch den zunehmenden personalisierten Medienkonsum. Gemäss einer Studie des Reuters Digital News Report 2016Externer Link nutzen 35% der Schweizer mindestens wöchentlich soziale Medien als News-Quelle. Dies hat Folgen für die Nachrichtenselektion: Im Gegensatz zur Startseite eines Medienportals bestimmt auf Social Media nicht eine Redaktion über Platzierung und Gewichtung von Themen.

Schweizer mögen ihre Medienportale

Es sind die Algorithmen, die einer bestimmten Auslieferungslogik der Inhalte folgen. Und auch auf Social Media zeichnet sich eine Beliebtheit zugunsten von ausländerpolitischen und emotionalisierenden Vorlagen ab: Eine Auswertung des Social-Media-Barometers Themenpuls.ch durch Udris› fög-Institut hat gezeigt, dass die auf Facebook meistgeteilten Artikel sich um die Durchsetzungsinitative gedreht haben. 

Udris: «Themen, bei denen man Gut und Böse gegenüberstellen kann, funktionieren auf Social Media. Eine Tierschutzinitiative würde wohl sehr kontrovers diskutiert werden, weil die Tierschützer sehr organisiert sind im Netz.»

Doch von einer Social-Media-getriebenen Mediengesellschaft ist die Schweiz noch weit entfernt. Denn über 50% der Klicks generieren die Schweizer Medienportale über Aufrufe der WebsiteExterner Link. Das heisst: Die meisten Leser machen sich die Mühe, die Webadressen ihres Mediums einzutippen. Schweizer Journalisten sind im Vergleich mit ihren amerikanischen Kollegen verwöhnt. Denn in den USA gilt die Startseite als faktisch totExterner Link. Die meisten Besucher gelangen über andere Kanäle zu Artikeln.

Was diese Entwicklung langfristig für den Medienkonsum und für die Demokratie bedeutet, wird wohl bald weiterer Gegenstand der Medien- und Politikforschung werden müssen. 

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