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BVG-Reform: Wie es nach dem Nein in der Schweiz weitergeht

Wieder scheitert eine Reform der Altersvorsorge an der Urne. Die Stimmberechtigten haben die BVG-Vorlage wuchtig abgelehnt. Es ist ein Triumph für die Linke, der auf Kosten ihrer eigenen Ziele geht.

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Die Schweizer Rentenpolitik hat ihren alten Daseinsmodus wiedergefunden: den Stillstand. Die Linke jubelt dieses Wochenende über ein klares Nein zur BVG-Reform, ihre «Renten-Bschiss»-Kampagne hat verfangen. «Mehr zahlen, weniger Rente», das wollten die meisten nicht.

Was das Nein zur BVG-Reform bedeutet

Erstens: Die Bevölkerung hat eine Anpassung des Umwandlungssatzes an die gestiegene Lebenserwartung, von 6,8 auf 6 Prozent, erneut abgelehnt, und zwar schon zum dritten Mal.

Die Folge: Die Arbeitstätigen müssen weiterhin die rechnerisch zu hohen Renten der neu Pensionierten quersubventionieren. Allerdings nur bei jenen, die im sogenannten Obligatorium versichert sind, laut Bund sind das rund 12 bis 14 Prozent.

Zweitens: Die Linke war für den Erhalt dieser Umverteilung bereit, andere Ziele zu opfern. Konkret die Verbesserung der Situation für Teilzeitarbeitende und Geringverdienende durch einen Systemwechsel beim Koordinationsabzug.

Die Folge: Dieser breit unterstützte Teil der gescheiterten BVG-Reform, der vor allem für viele Frauen wichtig wäre, wird nun im Parlament weitere Schlaufen drehen – wertvolle Zeit verstreicht, in der die Betroffenen wenig oder gar kein Alterskapital ansparen.

Drittens: Vorerst vom Tisch ist auch eine gleichmässigere Verteilung der Sparbeiträge über die Berufskarriere, sie hätte etwas tieferen Abzüge für die älteren und etwas höhere für die jüngeren Jahrgänge gebracht.

Die Folge: Das Problem, dass ältere Arbeitnehmenden für die Unternehmen unverhältnismässig teuer sind, bleibt bestehen. Die Lösung ist nach dem Nein zur BVG-Reform in eine ungewisse Zukunft verschoben.

Nach dem klaren Nein der Bevölkerung zur BVG-Vorlage, werden bei den Sieger:innen Begehrlichkeiten laut.

Das Parlament politisiere an der Bevölkerung vorbei, schreibt der Schweizerische Gewerkschaftsbund und fordert einen Kurswechsel. Konkret «höhere Verzinsungen der Altersguthaben und den Ausgleich der Teuerung auf den Renten».

SP und Grüne wiederum fordern die Einführung von solidarisch finanzierten Erziehungs- und Betreuungsgutschriften, sprich mehr Umverteilung in der zweiten Säule.

Bei den unterlegenen bürgerlichen Parteien variiert die Tonalität. Die FDP wirft der Linken vor, sie habe mit einer «faktenwidrikgen Kampagne» bessere Renten für Geringverdienende verhindert, insbesondere Frauen. Darin zeige sich die eigentliche Agenda der Linken, sie wolle die zweite Säule nicht modernisieren, sondern abschaffen.

Diese Lesart teilt der Arbeitgeberverband, der ankündigt, jedem Versuch zum Ausbau der AHV entgegenzutreten.

Die Mitte kritisiert die Kampagne der Gegenerinnen und Gegner, hält aber fest, man wolle sich weiterhin konstruktiv für die Modernisierung der zweiten Säule einsetzen.

Noch abgeklärter tönt es von der SVP: Das Nein zur BVG-Reform sei auch als «Nein zu den verantwortungslosen Ausbauplänen der SP» zu interpretieren. Das Nein sei ein Ja zum Status Quo. Das gelte es zu akzeptieren. Die Partei wendet sich damit auch explizit gegen die von SP und Grünen bereits vorgebrachten Forderungen.

Enttäuscht über das Abstimmungergebnis zeigt sich der überparteiliche Frauendachverband Alliance F. «Damit verpasst die Schweiz eine lang erkämpfte Chance, die Rentensituation der Frauen im Land endlich zu verbessern.»

Die Gründe für das Scheitern der BVG-Reform

Müsste man nur einen Grund für das Scheitern nennen, wäre es die Komplexität der BVG-Vorlage. Das System der zweiten Säule ist für viele ein Buch mit sieben Siegeln. Das schafft Ängste. Und die Gewerkschaften wussten diese mit ihrer KampagneExterner Link für sich zu nutzen.

Dann war die BVG-Vorlage aber vielleicht auch zu vollgepackt. Zwar begingen Parlament und Bundesrat nicht mehr den Fehler, beide Alterssicherungssysteme in einer einzigen Reform vor Volk zu bringen, ein Vorhaben, das zuletzt 2017 – und in den zwanzig Jahre zuvor – gescheitert war.

Mit der Anpassung der Sparbeiträge in den verschiedenen Jahrgängen wurde der Kreis der Direktbetroffenen aber doch ordentlich gross.

Und schliesslich standen die Pensionskassen nach einem Höhenflug der Finanzmärkte zum Zeitpunkt der Abstimmung auch einfach zu gut da. Der durchschnittliche Deckungsgrad, der angibt, zu welchem Teil die Kassen die Ansprüche der Versicherten bedienen können, war bei den privatrechtlichen Pensionskassen im zweiten Quartal 2024 auf über 120 Prozent gestiegen (gemäss SwisscantoExterner Link). Auch die öffentlichen Kassen waren komfortabel kapitalisiert. Man kann sich Systemfehler leisten.

Trotz allem, darf man auf die Nachwahlbefragungen gespannt sein, insbesondere auf die Stimmen der Rentnerinnen und Rentner. Sie hätten der BVG-Reform vom Zuschauersitz aus ihren Segen geben können.

Denn ihre Renten, so die eiserne Regel in der Schweiz, sind garantiert. Trotzdem wies eine grosse Gruppe von Pensionierten die Reform zurück – eine konservative Geste ohne eigene Betroffenheit, die stellvertretend für den Schweizer ReformstauExterner Link steht.

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Wie geht es nach dem Nein weiter?

Weil der rechnerisch zu hohe Umwandlungssatz nur jene Kassen zur Quersubventionierung zwingt, die kein oder nur wenig überobligatorisches Kapital verwalten, erwarten einige Pensionskassensachverständige eine Anpassung der Branche an die Politik. Konkret, dass es eine weitere Abkehr von Vorsorgeplänen mit rein obligatorischen Leistungen gibt.

Im Überobligatorium sind keine gesetzlichen Mindestrenten vorgesehen, darum können die Kassen eine Mischrechnung machen und – bezogen auf die Lebenserwartung – korrekte Renten auszahlen.

Aus gesamtgesellschaftlicher Sicht hätte eine solche Veränderung den Vorteil, dass minimalistische Vorsorgelösungen seltener und knausrige Arbeitgebende in die Pflicht genommen würden. Der Verzicht auf eine politische Reform würde in diesem Szenario in eine Versicherungsreform münden.

Im zweiten grossen Thema, bei den Teilzeitbeschäftigten und Geringverdienenden, bleibt der Reformbedarf bestehen. Die Diskussion dürfte im Parlament wieder aufgegriffen werden.

Aber es ist mit Widerstand aus Wirtschaftskreisen zu rechnen, denn einer isolierten Vorlage fehlt vorderhand das Gegenstück eines realistischen Umwandlungssatzes. Nach dieser Lesart wäre es paradox, das Obligatorium auszubauen, wenn es nicht ausreichend finanziert ist.

Die bittere Erkenntnis dieses 22. Septembers

Beim Volk geniesst die Idee der Quersubventionierung bei den Altersrenten nach wie vor Sympathien, nicht nur bei der AHV, wo sie systemkonform ist, sondern auch im BVG. So ergab kürzlich eine Studie der Universität Luzern, dass 54 Prozent der Umverteilung von Reich zu Arm in der AHV zustimmen. 42 Prozent würden eine solche auch beim BVG gutheissen, wo sie systemfremd wäre.

Allerdings sind die Zahlen mit Vorsicht zu geniessen. Die Ernüchterung, welche die Diskussion um die Finanzierung der 13. AHV-Rente gebracht hat, ist noch nicht in die Resultate eingeflossen. Und, wie Kontrollfragen zeigten, hatten über 50 Prozent der für die Studie Befragten erhebliche Wissenslücken.

Auch dieses schale Fazit bleibt auch nach diesem Abstimmungssonntag: Nach einem halben Dutzend Volksentscheiden über die Altersvorsorge allein in den letzten Jahren, bleiben die beiden wichtigsten Sozialversicherungen der Schweiz und bleibt insbesondere das BVG von vielen komplett unverstanden.

Wie steht es um das Wissen der Schweizer Bevölkerung über die BVG-Reform? Eine nicht repräsentative Strassenumfrage des «Blick» lässt tief blicken:

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