Abstimmungen: Ungewissheit und Desinteresse
Die Zusatzfinanzierung der Invalidenversicherung wird zwei Wochen vor der Abstimmung immer noch von einer - allerdings ungewissen - Mehrheit bejaht. Dies geht aus der 2. Umfrage des Forschungsinstituts gfs.bern für die SRG SSR idée suisse hervor.
Wäre in der zweiten Woche September 2009 über die Vorlagen der Volksabstimmung vom 27. September 2009 entschieden worden, hätten sich 34% (-7% gegenüber der ersten Umfrage am 16. August) der Stimmberechtigten an der Abstimmung beteiligt.
50% (-1%) wären für die Zusatzfinanzierung der heute mit 13 Milliarden Franken verschuldeten Invalidenversicherung (IV) mittels einer Erhöhung der Mehrwertsteuer und 32% (+5%) dagegen gewesen; 18% (-4%) hätten keine Stimmabsicht gehabt.
Beim Verzicht auf die allgemeine Volksinitiative hätten 39% (-2%) nicht gewusst, was sie stimmen sollen, während 32% (-8%) dagegen und nur 29% (+10%) für den Verzicht gewesen wären.
Befragt wurden vom Forschungsinstitut gfs.bern vom 7. bis zum 12. September 2009 insgesamt 1203 Stimmberechtigte.
Bundesratsthemen wichtiger
Die Abnahme der Stimmbeteiligung um 7% gegenüber der Befragung vor vier Wochen erklärt sich das Institut gfs.bern mit der Überlagerung der Volksabstimmung durch andere Themen.
«Die Hierarchie der öffentlichen Aufmerksamkeit lag in den letzten vier Wochen eindeutig beim Bundesrat: Zuerst ging es um das missglückte Handling der Libyen-Krise durch den Bundespräsidenten Hans-Rudolf Merz, dann um die umstrittene Ersatzwahl für Bundesrat Pascal Couchepin», heisst es im gfs-Bericht.
Beides sei nicht geeignet, ein Fenster der Aufmerksamkeit für die Volksabstimmung vom 27. September zu öffnen, das mobilisierend wirken könnte.
Die Demobilisierungstendenz trifft in allen Parteianhängerschaften zu, wenn auch ungleich stark. Erheblich betroffen sind die Sozialdemokratische Partei (SP) und die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP), beschränkt die Grüne und die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP.Die Liberalen).
Nur gering sind die Veränderungen bei der Wählerschaft der Schweizerischen Volkspartei (SVP) und den Parteiungebundenen.
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Urnengang
Mehr mögliche Ja-Stimmen in Romandie und Tessin
Der Vorschlag, zur Zusatzfinanzierung der IV die Mehrwertsteuer zwischen 2011 und 2017 um 0,4 Prozentpunkte zu erhöhen, hat in der Westschweiz (+10%) und im Tessin (+13%) am meisten potenzielle Stimmen erhalten. In der deutschsprachigen Schweiz dagegen ist die Akzeptanz von 55 auf 51% zurückgegangen.
Dies wird darauf zurückgeführt, dass die SVP – die einzige Regierungspartei, die ein Nein vertritt – in der Deutschschweiz ihre Position besser propagiert hat.
Auf der linken Seite findet die Zusatzfinanzierung der IV eine satte Mehrheit: Bei den Grünen sind 74% dafür gegenüber 71% vor vier Wochen. Bei der SP sind es jetzt 70% (59%).
Schlussmobilisierung entscheidend
Der Anteil der bei der IV-Zusatzfinanzierung zwei Wochen vor der Abstimmung noch Unentschlossenen (18%) bezeichnet Claude Longchamp, Direktor des gfs.bern, als sehr hoch.
Deshalb seien klare Voraussagen schwierig. «Die einzige Gewissheit ist die Ungewissheit», sagte er gegenüber swissinfo.ch.
Obwohl bei der Zusatzfinanzierung der IV in der Ausgangslage die Ja-Seite einen Vorteil hat, gibt es für Longchamp keine Sicherheit auf eine Mehrheit am Abstimmungstag. «Die Schlussmobilisierung entscheidet über den Ausgang.»
Die Erfahrung bei Umfragen dieser Art in den letzten elf Jahren zeige, dass im Moment der Abstimmung bei jenen, die sich «eher dafür» oder «eher dagegen» erklärten, plötzlich noch ein Wechsel ins andere Lager möglich sei, betonte Longchamp.
Stichwort Volatilität
Bei der zweiten Abstimmungsvorlage, dem Verzicht auf die Einführung der allgemeinen Volksinitiative, bleibt angesichts des Standes der Meinungsbildung alles möglich, auch wenn ein leichter Meinungsumschwung vom Nein ins Ja als wichtigster Trend festgehalten werden kann.
Die beteiligungswilligen Bürgerinnen und Bürger hatten anfangs September 2009 bei weitem nicht alle eine feste Meinung in der genannten Sache: Rekordverdächtige 39% (-2%) wussten noch gar nicht, was sie stimmen sollten. Weitere 27% (+1%) hatten eine tendenzielle Meinung, nur 34% (+1%) zeigten eine feste Stimmabsicht.
Das spricht laut gfs.bern unverändert für eine kaum vorbestimmte Meinungsbildung unter den mobilisierbaren Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern gegenüber dem Verzicht auf die Einführung einer allgemeinen Volksinitiative über das bisherige Initiativrecht hinaus. Volatilität im Abstimmungsausgang bleibt damit das wesentliche Stichwort.
Jean-Michel Berthoud, swissinfo.ch
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Volksinitiative
IV-Finanzierung
Die Stimmberechtigten müssen entscheiden, ob sie die Mehrwertsteuersätze zugunsten der IV während 7 Jahren (2011–2017) leicht erhöhen wollen, um deren Finanzierung zu gewährleisten.
Im Fall einer Annahme der Vorlage steigt der Normalsatz von heute 7,6 auf 8%.
Mit diesem Schritt im Sanierungsplan soll den laufenden Defiziten (ca. 1,5 Mrd. pro Jahr) und der enorm wachsenden Verschuldung der IV (ca. 13 Mrd. Ende 2008) Einhalt geboten werden.
Da die die befristete Erhöhung der Mehrwertsteuer mit einer Verfassungsänderung verbunden ist, wird sie Volk und Ständen zur Abstimmung vorgelegt. Bundesrat und Parlament befürworten die Zusatzfinanzierung.
Volksrechte an der Urne
Am 9. Februar 2003 hat das Stimmvolk mit 70,3% Ja-Stimmen der Einführung der allgemeinen Volksinitiative zugestimmt, die es im Gegensatz zur bestehenden Volksinitiative erlauben würde, auch Änderungen auf Gesetzesstufe und nicht ausschliesslich auf Stufe Verfassung zu verlangen.
100’000 Stimmberechtigte oder acht Kantone sollten Annahme oder Aufhebung von Verfassungs- oder Gesetzesbestimmungen verlangen können; das Parlament hätte dann entschieden, auf welcher Rechtsetzungsstufe das Begehren verwirklicht wird.
In der Zwischenzeit hat sich herausgestellt, dass die Umsetzung der allgemeinen Volksinitiative ausserordentlich kompliziert und damit praktisch unmöglich wäre.
Deshalb kamen die zuständigen politischen Instanzen zum Schluss, die allgemeine Volksinitiative wieder aus der Verfassung zu streichen.
Das Parlament sah keinen anderen Ausweg als die Aufhebung von Artikel 139a der Bundesverfassung anzugehen. Dafür wird am 27. September wiederum die Zustimmung von Volk und Ständen gebraucht.
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