Affäre Schweiz-Libyen belastet die EU
Kommt Bewegung in die Libyen-Affäre? Nach Angaben des italienischen Aussenministers wird Micheline Calmy-Rey am Donnerstag den libyschen Aussenminister Mousa Kousa treffen. Die Aussenminister der EU wollen am Montag über die Visa-Krise debattieren.
«Visa für Europäer wegen Krieg zwischen Libyen und der Schweiz blockiert», titelte die italienische Tageszeitung La Repubblica am Dienstag.
Blockierte Visa? Ja. Seit Ende letzter Woche verweigern die Libyer Personen aus dem Schengenraum die Einreise, auch wenn sie mit einem korrekten Visum ankommen.
Italiener, Franzosen und Portugiesen, die an einer Handelsmesse teilnehmen wollten, wurden ins nächste Flugzeug gesteckt und zurückgeschickt.
Konsultationsprozedere
Letzten Juni hatte die Schweiz im Bestreben, Oberst Gaddafi wegen der Festhaltung von zwei Schweizer Geiseln unter Druck zu setzen, ein so genanntes Konsultationsprozedere angestossen. Diese Möglichkeit ist in den Verträgen von Schengen zum freien Personenverkehr vorgesehen.
Ein Mitgliedstaat, beispielsweise die Schweiz, kann verlangen, dass er vor der Vergabe von Schengen-Visa an Staatsangehörige eines Drittstaats konsultiert wird, beispielsweise bei der Anfrage eines Libyers.
Die Schweiz kann sich gegen die Ausstellung eines solchen Visums aussprechen. In diesem Fall haben andere Partnerländer des Schengenraums die Wahl: Sie können den Libyer ohne Visa zurückschicken, oder sie können ihm ein «Visum mit limitierter territorialer Gültigkeit» ausstellen, das nur für ihr eigenes Land gilt.
Dieses restriktive Prozedere verlangt von den Mitgliedsstaaten der EU, ausser Grossbritanniens, das nicht zum Schengenraum gehört, juristische Solidarität.
Die Union wertet dies als ersten Schritt einer Verwicklung in die Affäre Schweiz-Libyen. Die Schweiz ist sich dessen bewusst und hofft, dass diese Strategie mithilft, Tripolis in der Frage der Geiseln in die Knie zu zwingen.
Das Gaddafi-Regime hat im November offiziell bei den europäischen Botschaftern gegen dieses Vorgehen protestiert. Die Union antwortete, sie setze lediglich die Gesetzestexte um.
Schwarze Liste
Ebenfalls im November legte der Bundesrat noch einen Zacken zu: Basierend auf Artikel 96 des Abkommens von Schengen liess die Schweiz aus Gründen der «öffentlichen Ordnung» die Namen von unerwünschten libyschen Staatsbürgern im Schengener Informationssystem (SIS) eintragen.
Für die anderen Mitgliedsländer gab es rechtlich keine Möglichkeit, sich gegen diese Massnahme zu stellen.
Eine auf dieser Liste kann keinen Antrag für ein Visum für die Schengen-Länder als Ganzes stellen. Wer in mehrere Länder der Schengenzone einreisen will, muss für jedes ein einzelnes Visum beantragen. Und jeder Staat kann dieses erteilen – oder verweigern.
«Die Schweiz ist nicht das einzige Land, das die Libyer in diese Situation gebracht hat», erklärt eine gut unterrichtete Quelle in Brüssel. «Gegenwärtig sind laut unseren Informationen rund hundert Namen auf dieser ‹Liste›.
Parallel dazu hat die Schweiz 270 von 30’000 Visagesuchen für den Schengenraum verweigert, was nicht einmal 1% ausmacht», präzisiert Jacques de Watteville, der Schweizer Botschafter bei der Europäischen Union.
Tripolis zeigt sich durch diese Massnahmen mehr und mehr irritiert, auch weil dadurch diesen Januar Gaddafis Sohn Saif al-Islam die Teilnahme am Weltwirtsschafts-Forum (WEF) in Davos verunmöglicht wurde.
Laut La Liberté konnte der Sohn des Revolutionsführers auch nicht das Filmfestival Berlin besuchen, wo er sonst öfters anzutreffen sei.
Der Gaddafi-Clan blockierte als Vergeltungsmassnahme nun für alle Schengenbürger die Einreise nach Libyen.
Italienische Anschuldigungen
Während der Konflikt zu Beginn rein bilateral war, dann formaljuristisch auf die Schengenregion ausgedehnt wurde, ist er jetzt mitten in der europäischen Politik gelandet.
Cecilia Malmström, die neue Kommissarin für Innenpolitik, «bedauert den einseitigen und unverhältnismässigen Entscheid» der libyschen Behörden und verspricht «eine angemessene Reaktion».
Franco Frattini, der Aussenminister Italiens, das von einer Annäherung an seine ehemalige Kolonie Libyen träumt, hat der Schweiz vorgeworfen, «alle Schengenstaaten in Geiselhaft zu nehmen».
EU-Aussenminister beraten am Montag
Am 18. Februar werden sich Experten der Schengenstaaten in Brüssel treffen, um das Thema auf technischer Ebene zu erörtern.
Gleichentags kommt es offenbar zu einem Treffen des libyschen Aussenministers Kousa mit Vertretern der spanischen EU-Ratspräsidentschaft. Laut dem italienischen Aussenminister Frattini wird Micheline Calmy-Rey auch daran teilnehmen.
Der Zwist hat Europa also erreicht. Auf den ersten Blick eine gute Sache für Bern, das so nicht allein vor Tripolis steht.
Doch die Strategie birgt ein Risiko: Die Union könnte sich in dieser Sache unter dem Druck aus Rom teilen, hegen doch einige weitere Regierungen den Wunsch nach einer Annäherung an Libyen.
Auch die EU-Aussenminister wollen sich des Themas annehmen. Sie werden am kommenden Montag über das libysche Einreiseverbot für Bürger aus dem Schengen-Raum beraten, wie am Mittwoch aus Brüssel verlautete. Das Thema kam auf Vorschlag der EU-Aussenbeauftragten Catherine Ashton auf die Tagesordnung.
«Wir versuchen, auf diplomatischem Wege diesen Konflikt auszuräumen und nutzen alle Möglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen», sagte ein Kommissionssprecher.
Alain Franco, Brüssel, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
Die Aussenminister Italiens Franco Frattini und Maltas, Tonio Borg, trafen sich am Mittwoch in Rom mit ihrem libyschen Amtskollegen Mousa Kousa.
Libyen solle die zwei seit 2008 festgehaltenen Schweizer ausreisen lassen, forderte Frattini anschliessend vor den Medien. Zudem solle Tripolis wieder Visa an Bürger aus Schengen-Ländern erteilen. Doch auch die Schweiz sei gefordert: Bern solle die Liste mit 180 unerwünschten Libyern aus dem Schengen-Computersystem tilgen.
Schengen-Einreiseverbote seien dazu da, Kriminelle und Terroristen zu bekämpfen, betonte Frattini erneut. Im vorliegenden Fall gehe es hingegen um einen politischen Disput, der anders gelöst werden müsse.
Frattini informierte seine Schweizer Amtskollegin Micheline Calmy-Rey nach eigenen Angaben noch am Mittwoch telefonisch über das Dreiertreffen von Rom. Calmy-Reys Departement machte zu dem Telefonat keine Angaben.
Verhärtung der Front: Die Schweiz hat ihre Visa-Politik gegenüber libyschen Staatsangehörigen im letzten Herbst verschärft, nachdem die libyschen Behörden die beiden festgehaltenen Schweizer während 52 Tagen entführt hatten.
Hannibal Ghaddafi: Die beiden Schweizer Geschäftsmänner waren am 19. Juli 2008 in Tripoli verhaftet worden, nur wenige Tage nachdem in Genf Hannibal, einer der Söhne des libyschen Herrschers, und seine Ehefrau vorübergehend festgenommen worden waren. Sie wurden der Misshandlung ihrer Bediensteten verdächtigt.
Rachid Hamdani: Der schweizerisch-tunesische Doppelbürger ist einer der beiden Geschäftsleute, die von der libyschen Justiz wegen «illegaler wirtschaftlicher Aktitiviäten» verfolgt wurde. Am 7. Februar profitierte er von der Einstellung des Verfahrens, nachdem er eine Woche zuvor vom Verdacht auf «illegalen Aufenthalt» freigesprochen wurde. Eigentlich dürfte er nun aus dem Land zu reisen – theoretisch.
Max Göldi: Die zweite Schweizer Geisel in Libyen betrifft, ist er wegen Übertretung des Handelsrechts mit einer einfachen Busse davon gekommen. Wegen Visavergehen wurde er erst mit 16 Monaten Gefängnis bestraft. Am 11. Februar wurde diese Strafe jedoch auf 4 Monate reduziert.
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