Alpen-Initiative: eine verpasste Revolution
Seit 10 Jahren steht in der Verfassung, dass der Gütertransitverkehr von der Strasse auf die Schiene verlegt werden soll. Am 20. Februar 1994 sagte das Volk Ja zur Alpen-Initiative.
Der damalige Entscheid hatte etwas Revolutionäres an sich. Doch wurde er bisher nicht verwirklicht.
1992 wollte die Schweiz mit der Verwirklichung der neuen Eisenbahn-Transversalen (NEAT) durch die Alpen eine neue Basis in ihrer Verkehrspolitik schaffen und ein Gegengewicht zur Invasion durch den Strassen-Schwerverkehr setzen. Die neue, fortschrittlichere Politik sollte die Umwelt besser miteinbeziehen.
1994 folgt die Bestätigung dieser Politik durch Volk und Stände: 51,9% der Stimmenden und 19 der 26 Kantone stimmten vor genau zehn Jahren, am 20. Februar, der Alpenschutz-Initiative zu.
Sie verlangt, dass der Gütertransitverkehr über die Schiene abgewickelt wird. «Ein wichtiger Sieg für die Umwelt und für das alpine Ökosystem», sagt Fabio Pedrina, der damalige Präsident des Initiativ-Komitees, auch heute noch.
«Wir hatten damals die Situation unterschätzt», erinnert sich seinerseits Dumeni Columberg, ehemaliger CVP-Nationalrat und Präsident des Gegen-Komitees. «Wir waren überzeugt, dass das Volk eine derart radikale Vorlage nicht akzeptieren würde.»
Emotionen und Gräben
Wie kürzlich die Kampagnen zum Avanti-Gegenvorschlag hatte die verkehrspolitische Grundsatzfrage auch damals die Emotionen auf beiden Seiten des ideologisch gespaltenen Lagers geschürt.
Die Debatte vor der Abstimmung hatte sogar den damaligen Transportminister Adolf Ogi aus der Fassung gebracht. Während eines Fernseh-Streitgesprächs attackierte der populäre Bundesrat, der im Namen der Regierung und des Parlaments die Initiative bekämpfte, erzürnt den Urner Regierungsrat Hansruedi Stadler, der für die Initiative sprach.
Auch vom «Röstigraben», dem ideologischen und kulturellen Graben, der die Deutsch- von der Westschweiz trennt, war 1994 oft die Rede.
Während die Deutschschweiz und das Tessin mehrheitlich für das Projekt der Initiative tendierten, sprach sich die geografisch vom Alpentransit weniger betroffene Romandie ziemlich kompakt für ein Nein aus. Sie erachtete das Projekt als radikal und nicht eurokompatibel.
Verfassungartikel und Wirklichkeit
«Laut dem Grundgedanken des Artikels in der Verfassung, der auf die Initiative zurück geht, sollen die Interventionen ins alpine Ökosystem dem Konzept der nachhaltigen Entwicklung Rechnung tragen», ruft Fabio Pedrina in Erinnerung.
Der betreffende Artikel 84 präzisiert auch das dafür vorgesehene Instrument: «Der alpenquerende Güterverkehr durch die Schweiz erfolgt auf der Schiene», so Pedrina. Punkt und Schluss.
Im folgenden Paragrafen des Artikels wird spezifiziert, dass «die Transitstrassen-Kapazität im Alpengebiet nicht erhöht werden darf».
Schwer wiegende Worte, die bis heute an der Wirklichkeit scheitern. Statt merklich weniger fahren nämlich heute mehr schwere Laster durch den Gotthard-Strassentunnel.
1994 hatte man im Schwerverkehr durch den Gotthard-Tunnel eine Million Fahrzeuge gezählt. Bis ins Jahr 2001, vor dem tragischen Brandunglück im Tunnel, stieg die Zahl auf 1,4 Millionen.
Heute durchqueren, trotz verschiedenen Beruhigungsmassnahmen wie dem Tropfenzähler-System, noch immer rund 1,2 Millionen Lastwagen pro Jahr die Gotthardröhre.
Ausserdem hat sich beim alpenquerenden Güterverkehr die Relation zwischen Schiene und Strasse geändert. Zuungunsten der Schiene. Vor einigen Jahren lag das Verhältnis bei 70:30, im Jahr 2002 stand es 64:36.
Zumindest ein eindämmender Effekt
Was nützten dann die 954’491 Ja-Stimmen, die im Februar vor zehn Jahren in die Urne gelegt wurden? Nur dazu, die Bundesverfassung mit weiteren Worten anzureichern?
«Das würde ich nicht so negativ sehen», sagt Ueli Müller vom Verkehrsclub der Schweiz (VCS). «1994 war der Bundesrat noch gegen die Initiative.» Und während einigen Jahren sei nicht sehr viel unternommen worden, um die Forderungen der Initiative zu konkretisieren.
«Doch heute, nach Abschluss der bilateralen EU-Verträge im Verkehrsbereich, verfügen wir dank dem Gesetz über die Umlagerung des Schwerverkehrs auf die Schiene und dank der leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe LSVA über ein gutes Instrumentarium zum Schutz der Alpen.»
Laut Müller wäre es möglich, mit solchen Massnahmen die Ziele der Bilateralen zu erreichen: 650’000 Lastwagen im Strassen-Transitverkehr, zwei Jahre nach der Eröffnung des Lötschberg-Basistunnels.
Die Standpunkte nähern sich
Diese Einschätzung seitens des VCS wird zum Teil auch vom ehemaligen Alpen-Initiativ-Gegner Dumeni Columberg geteilt: «Meine Gegnerschaft bezog sich auf die nicht verwirklichbare Grundidee der Initiative. So erschien es mir damals beispielsweise kaum möglich, den gesamten Transitverkehr innerhalb von nur zehn Jahren auf die Schiene zu verlagern. Die Entwicklung seit 1994 bestätigt dies ja.»
Der damalige Präsident der Alpeninitiativ-Gegner sagt zudem: «Doch letztlich empfinde ich die laufende Verkehrspolitik als korrekt. Sie wurde seit 1994 nachgebessert und mit weiteren Volksabstimmungen untermauert.»
Laut Columberg könnte sich die Eindämmungs-Strategie des Schwerverkehrs dem Ziel der utopisch gehaltenen Verfassungsartikeln annähern. Womit sich zumindest die einzuschlagende Richtung abzeichne, auch ohne dass die konstitutionell vorgegebenen Auflagen je ganz verwirklicht würden.
swissinfo, Marzio Pescia
(Übertragen aus dem Italienischen von Alexander Künzle)
Die Volksinitiative «zum Schutz des Alpengebietes vor dem Transitverkehr», kurz «Alpen-Initiative» genannt, wurde 1990 mit 107’50 Unterschriften eingereicht.
Um das alpine Ökosystem und die Lebensqualität zu schützen, verlangt die Initiative, dass der Transitverkehr von Grenze zu Grenze über die Schiene abgewickelt werde, und dass die Kapazitäten der Transitachsen im Alpengebiet nicht erhöht werden.
1994 wurde die Volksinitiative von 51,9% der Stimmenden und von 19 der 26 Kantone angenommen. Das Anliegen wurde in der Folge als Alpenschutzartikel 84 in die Bundesverfassung aufgenommen.
Art. 84 der Bundesverfassung besagt, dass der alpenquerende Güterverkehr in der Schweiz auf der Schiene erfolgen soll.
1994 hatte eine Million Lastwagen den Gotthard-Strassentunnel durchquert.
Heute durchqueren rund 1,2 Millionen solch schwerer Fahrzeuge pro Jahr den Tunnel.
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