Als Anarchisten die Schweiz terrorisierten
Ein Blick in die Schweizer Geschichte zeigt, dass politisch motivierte Gewalttaten hierzulande weitaus häufiger waren als uns dies heute bewusst ist. Doch der Schrecken, den diese Gewalttäter verbreiteten, war meist grösser als der Schaden, den sie anrichteten.
Im September 1898 promenierte Elisabeth, Kaiserin von Österreich, Königin von Ungarn, liebevoll Sisi genannt, mit ihrer Hofdame am Quai von Genf. Ein unbekannter Mann stürzt auf sie zu und rammt ihr eine Nagelfeile ins Herz. Sie verspürt nur einen kleinen Stich, aber fällt in Ohnmacht und stirbt wenige Stunden später.
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«Die Kaiserin ins Herz getroffen»
Ihre Ermordung gilt als erstes politische Attentat der modernen Schweizer Geschichte. Ihr Mörder, der Italiener Luigi Luccheni war ein bekennender Anarchist. Er war einer von vielen Gleichgesinnter, die in der Schweiz damals Zuflucht geboten haben.
Das Land bot seit den gescheiterten 1848er-Revolutionen politisches Asyl für jene, die gegen die Monarchien in Europa kämpften. Sie war für die Anarchisten ein wichtiger Zufluchtsort, wenn nicht sogar der Entstehungsort der Idee des Anarchismus.
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Bakunin und die Uhrmacher
Doch der Kampf blieb nicht immer jenseits der Grenzen, auch die Schweizer Regierung geriet in den Fokus: In den 1880er-Jahren drohte ein Anarchist, das Bundeshaus in die Luft zu sprengen.
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«Sprengung des Bundespalastes diesen Monat. Zittert!»
Die Pläne inspirierten den Chansonier Mani Matter fast hundert Jahre später zum Lied «Dynamit»:
Etliche der Anarchisten und Anarchistinnen, die sich in der Schweiz aufhielten, sahen sich der «Propaganda der Tat» verpflichtet und setzten auf Attentate. «Wir haben kein Geld, um die Massen aufzuwühlen: darum müssen wir eklatante Taten begehen, welche denselben Zweck erfüllen», erklärte der russische Anarchist Isaak Dembo in einem Verhör. Er stand im Verdacht die Laboratorien der Eidgenössischen Technischen Hochschule genutzt zu haben, um Bomben zu bauen.
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Raus mit dem «Schlangengezücht aller Utopisten und Fanatiker»
Mehrere Anarchistenprozesse erregten internationales Aufsehen: So derjenige von Tatjana Leontieff, die 1906 in einem Grand Hotel in Interlaken einen französischen Geschäftsmann exekutierte – wie sich herausstellte, weil sie ihn mit dem russischen Innenminister verwechselt hatte. Ein Geschworenengericht aus Bauern aus der Region sprach sie zwar nicht frei – sie erliess aber eine milde Strafe wegen mangelnder Unzurechnungsfähigkeit.
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Mord im Grandhotel: eine tödliche Verwechslung
Das Fass zum Überlaufen brachte ein Banküberfall, bei dem Anarchisten 1907 in Montreux einen jungen Kassier niederschossen. Die Bankräuber wurden nach der Verhaftung fast gelyncht, der Mob forderte die Todesstrafe.
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Ein Banküberfall – und «Todesstrafe!», rief Schweiz
Als Reaktion auf die Welle an Gewalttaten wurden immer wieder Forderungen, das Asylrecht zu verschärfen, laut. Eine Reaktion auf die Welle anarchistischer Gewalttaten war das so genannte Anarchistengesetz von 1894, das das Bauen von Bomben unter Strafe stellte.
Doch der Grundtenor bleibt klar: Der «Freiheitsgedanke in Europa» dürfe von der Schweiz nicht aufgegeben werden, meinte die Neue Zürcher Zeitung:
«Man kann verzweifelte Menschen von Land zu Land hetzen, aber einmal wird sich ihnen die Gelegenheit doch bieten, und sie werden diese dann so sehr ausnützen, wie sie können.»
«Es mag wohl demütigend für uns sein, zu denken, dass wir im Glanze unserer Civilisation nicht sicher sein sollten, aber es ist in der Tat so, und wir werden gut tun, dies anzuerkennen.»
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