Als Wählen noch ein Abenteuer war
Einst waren eidgenössische Wahlen Anlass für Ausflüge ins Grüne, Trinkfeste oder sogar Raufereien.
So nannte man in Genf das Wahlgebäude «Ohrfeigenfabrik», wegen des handfesten Argumentariums, mit dem dort um Stimmen regelrecht gekämpft wurde.
Der Wahlsonntag als staatspolitisches Ereignis ist heute reduziert auf das Erwarten der Resultate, die teils schon durch die Meinungsbefragungen vorweggenommen sind. Früher hingegen lief das Ganze viel intensiver ab.
Dies gilt besonders im Gefolge der Erneuerung der Eidgenossenschaft nach 1848 und den folgenden Legislaturperioden, die damals drei statt wie heute vier Jahre dauerten. Damals konnten die Kantone die Wahlen noch nach ihrem eigenen Gutdünken organisieren und durchführen.
Seit 1872 geheim
Erst 1872 setzte der Bund einige einheitliche Normen für den Wahlablauf fest, so vor allem die geheime schriftliche Wahl in der Wohnorts-Gemeinde.
Bis zu jenem Zeitpunkt hatten viele Kantone für die Nationalrats-Wahlen eine Art Wahlversammlung gekannt, die am Hauptort des jeweiligen Wahlbezirks abgehalten worden war.
Die Kandidaten für den Ständerat, die kleine Kammer, waren dagegen in allen Kantonen von den Kantonsparlamenten gewählt worden.
Bankette, Trinkgelage, Schlägereien
Stimmende brauchten oft einen ganzen Tag, um sich bis an die Urnen zu begeben. Das ergab Vorwände für Ausflüge ins Grüne, Treffen mit Bekannten, Bankette und Trinkfeste. Manchmal kippte der Anlass um, Raufereien waren die Folgen.
Üblicherweise hatten sich die Wähler – Frauen hatten damals noch kein Stimmrecht – in den Hauptorten der Wahlkreise einzufinden. Manchmal zogen die Kantonsregierungen diese Kreise mit Absicht derart vertrackt, nur um über die Wahlbeteiligung das Resultat zu beeinflussen.
Im Kanton Luzern beispielsweise wurden die Wahlkreise von den Standesoberen mit dem Ziel gezogen, einem möglichst hohen Anteil der Wähler den Gang zur Urne möglichst zu erschweren. So hatten die Wähler von Sursee aus nach Beromünster und jene von Nottwil nach Dagmersellen an die Urnen zu «reisen».
Haufenweise miese Tricks
Ähnliches lief bei den Wahlen von 1848 in Luzern und Freiburg ab, damit die damaligen Freisinnigen trotz katholisch-konservativer Mehrheit die Macht erringen konnten.
In Freiburg durften schliesslich nur jene wählen, die einen Treue-Eid auf die Bundesverfassung schworen. Diese Vorgabe geriet zahlreichen katholischen Wählern erwartungsgemäss in den falschen Hals.
Denn die Katholiken galten so kurz nach dem Sonderbundskrieg, dem letzten Quasi-Bürgerkrieg in der Schweiz, immer noch als Gegner des Bundesstaates.
In Luzern und Freiburg fiel der Wahltag zudem auf einen Arbeitstag, dies mit dem Hintergedanken, die Angestellten und landwirtschaftlichen Hilfskräfte von vornherein von der Wahl «auszuschliessen».
Die eidgenössischen Wahlen gaben zahlreichen Anlass für unzählige Rekurse rund um mutmassliche Unregelmässigkeiten oder Wahlbetrüge. Erste Einsprachen hagelte es jeweils schon während der Vorbereitung der Wählerlisten.
Gewalt rund um die Urnen im Tessin
Das Abhalten öffentlicher Wahlen öffnete «handfesten» Wahlmanipulationen Tür und Tor. Im Tessin, aber auch in anderen Kantonen, war die geheime Wahl zunächst nicht erlaubt.
Die Wähler hatten sich zu einem genauen Zeitpunkt im Ort des Wahlkreises einzufinden. Zuerst wurde das Einberufungs-Dekret vorgelesen, dann rief man die in den Wahllisten Eingetragenen auf.
Diese wählten, indem sie entweder die Namen der Kandidaten riefen oder sie vor den Wahlbüro-Vorstehern niederschrieben. Kopien dieser Dokumente, versehen mit der Identität der Wähler und ihrem Wahlentscheid, gingen dann an die Kantonsregierung.
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts kam es besonders im Tessin immer wieder zu gewalttätigen Aktionen rund um und an den Urnen: Bürger wurden eingeschüchtert oder misshandelt, teils sogar an der Wahl gehindert, Urnen wurden geplündert oder der Inhalt zerstört.
Die Wahlen waren begleitet von Schlägereien, manchmal gar von Schiessereien. Zu Tätlichkeiten kam es vorwiegend während der kantonalen Wahlen, die meist sehr umstritten waren.
Mit Kantons-Wahlen war auch viel mehr verbunden: Es handelte sich dabei häufig um Entscheide in heiklen politischen Bereichen wie Schule, Steuerpolitik und Raumplanung. Bei Letzterem ging es oft um die Vergabe öffentlicher Arbeiten oder Aufträge.
Heisssporne in der Ohrfeigenfabrik
Ein weiterer Kanton, in dem es während den eidgenössischen Wahlen gerne hoch zu und her ging, war Genf. Dort hielt man die Wahlen für den Gesamtkanton in einem städtischen Gebäude ab.
Offiziell hiess dieses Wahlgebäude («Bâtiment électoral»). Doch im Volksmund nannte man es die «Ohrfeigenfabrik» («Boîte à gifles»). Dies wegen der Raufereien, die entstanden, wenn die verbalen Argumente erschöpft waren oder die Einschüchterungs-Versuche der Gegnerschaft oder der noch Unentschlossenen zu weit gingen.
Eigentlich sollten die Wahlen geheim sein. Doch da die Wahlzettel von den Parteikomitees verteilt wurden, öffneten sich viele Möglichkeiten zu Druckversuchen oder Wahl-«Überwachungen».
Erst das Prozedere der geheimen Wahl mit offiziellen Wahlzetteln hat das emotional bewegte Kollektiv-Ritual mit grossem Potential auch für physische Wahlaktivitäten zu einem hohen staatsbürgerlichen Akt gemacht. Fortan konnten die Schweizer ihren politischen Präferenzen in zivilisiertem Rahmen eine Stimme geben.
swissinfo, Marco Marcacci
(Übertragung aus dem Italienischen: Alexander Künzle)
Früher waren eidgenössische Wahlen eine Art Festanlass, an dem man sich traf und zusammen feierte.
Politische Hitzköpfe mit wenig ausgefeilter Rhetorik setzten auch mal ihre Fäuste ein, um Gegner und Unentschlossene zu beeinflussen.
1872 führte der Bund die geheime Wahl ein.
Aus dem teils überbordenden Kollektivritual des 19. Jahrhunderts wurde ein individueller staatsbürgerlicher Akt, zu dem eine beinahe heilige Pflicht rief.
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