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Alternative zur Idee eines 27. Kantons für die 5. Schweiz

Für Jean-Pierre Gaudin birgt die Idee eines 27. Kantons das Risiko grossen Widerstands im Landesinnern. swissinfo.ch

Das Schweizer Parlament wird sich in Kürze mit dem Dossier der politischen Vertretung der Auslandschweizer befassen. Soll dafür ein neuer Wahlkreis, ein virtueller 27. Kanton, geschaffen werden?

Der Politologe Jean-Pierre Gaudin befürchtet, dass diese Idee in der Schweiz zu Protesten führen würde. Sein Alternativ-Vorschlag: Der Auslandschweizer-Rat soll die Abgeordneten der 5. Schweiz wählen.

Auch wenn die Auslandschweizer-Organisation (ASO) von der Idee eines 27. Kantons für die direkte politische Vertretung der Schweizer Diaspora nicht wirklich überzeugt ist, wird sie alles tun, damit das Parlament eine Lösung findet, um die Fünfte Schweiz stärker in den politischen Prozess einzubeziehen.

Die Staatspolitische Kommission des Nationalrats (grosse Kammer) sollte sich ab Ende Februar mit dem Dossier befassen. Den Abgeordneten liegen dazu eine Motion des Sozialdemokraten Mario Fehr und eine Parlamentarische Initiative seines Parteikollegen Carlo Sommaruga vor.

Bei einem Treffen, das der Schweizer Generalkonsul Michel Faillettaz in Marseille mit den Präsidenten der Schweizer Vereine in Südfrankreich organisiert hatte, rief ASO-Präsident Jacques Simon Eggly jüngst diesen Termin in Erinnerung.

Jean-Pierre Gaudin, Professor für Polit-Wissenschaften am Institut für politische Studien in Aix-en-Provence, erläuterte bei dem Treffen den Vorschlag zur Schaffung eines 27. Kantons und verglich die Idee mit den in Frankreich und Italien getroffenen Lösungen.

Der Franko-Schweizer, der seit über zehn Jahren an Abstimmungen in der Schweiz teilnimmt, schlug stattdessen eine stärkere politische Rolle für den Auslandschweizer-Rat, das oberste Organ der ASO, vor.

swissinfo: Ob in der Schweiz, in Frankreich oder in Italien; dass die Stimme der Diaspora vermehrt wahrgenommen wird, ist eine neuere Entwicklung. Wie kam es dazu?

Jean-Pierre Gaudin: In den fortschrittlicheren Demokratien ist man sich seit den 1990er-Jahren vermehrt bewusst geworden, dass die Demokratie keine fixe Errungenschaft ist, sondern dass man sich für noch mehr Demokratie oder eine gefestigtere Demokratie einsetzen muss.

Davon zeugen die Diskussionen über partizipatorische Demokratie in verschiedenen Ländern und um das Anliegen, wie Bürger, die im Ausland leben, ihrer politischen Stimme im Ursprungsland Ausdruck geben können.

Beeinflusst wird die Wahrnehmung auch durch die mehr oder weniger grosse wirtschaftliche Bedeutung einer Diaspora.

swissinfo: Was zeigt der Vergleich zwischen dem Vorgehen in Frankreich, Italien und der Schweiz?

J.-P.G.: Eines ist klar: Man hat die Wahl zwischen einer direkten Vertretung und einer indirekten, einer Vertretung zweiten Grades.

Bei der direkten Vertretung wie im Fall von Italien wird ein fiktiver neuer Wahlkreis geschaffen. Die Stimmbürger und Stimmbürgerinnen im Ausland haben dieselben Grundvoraussetzungen wie jene im Land selber.

Bei der indirekten Vertretung, für die sich Frankreich entschieden hat, werden in einem ersten Schritt Vertreter in ein Gremium gewählt, das dann die Abgeordneten fürs Parlament wählt. Dieses System ebnet politische Unterschiede etwas mehr aus und reagiert weniger stark auf aktuelle politische Schwankungen.

Auf diesem Weg könnte man auch das Hindernis umgehen, das sich in der Schweiz mit der Schaffung eines neuen Wahlkreises ergeben könnte, da die Wahlkreise verfassungsmässig die Kantone sind.

Sicher, die Idee eines 27. Kantons hat ihre starken Seiten: Ein eigener Wahlkreis würde sicher dazu führen, dass sich noch mehr Leute in die Stimmregister eintragen; und damit insgesamt zu einer stärkeren Beteiligung der Auslandgemeinde an den Urnengängen.

Hingegen befürchte ich die Auswirkungen, welche ein Entscheid für einen solchen Wahlkreis im Inland nach sich ziehen könnte. Wenn ich in der Schweiz bin, höre ich oft die Kritik, dass die Diaspora in der Schweiz ja kaum Steuern zahle, oder dass sie zu wenig in die lokale Politik involviert sei.

Man muss aufpassen, dass eine Formel, die im Ausland attraktiv erscheint, im Inland nicht auf Ablehnung stösst. Denn damit diese Idee umgesetzt werden kann, braucht es im Landesinnern eine sehr grosse Akzeptanz.

swissinfo: Was unterscheidet denn diese zwei Varianten der politischen Vertretung hauptsächlich voneinander?

J.-P.G.: Die direkte Vertretung dient eher der politischen Meinungsäusserung, die indirekte eher der Verteidigung von Interessen.

Ideal wäre es, wenn beide Dimensionen – die politische Meinungsäusserung und der Einsatz für die Interessen – zum Zuge kommen könnten.

swissinfo: Sie schlagen als Alternative zu einem 27. Kanton vor, die Rechte des Auslandschweizer-Rats zu stärken?

J.-P.G.: Ja, der Rat könnte aus meiner Sicht zum Verbindungsglied werden, mit dem die Auslandschweizer-Gemeinde ihre politischen Forderungen im Parlament einbringt.

Der Rat hätte den Auftrag, auf einer stärkeren politischen Basis die Vertreter der Diaspora für den Nationalrat zu wählen.

swissinfo-Interview: Frédéric Burnand, Marseille
(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

Die Auslandschweizer-Organisation (ASO) vertritt in der Schweiz die Interessen der Auslandschweizer-Gemeinde.

Sie informiert die rund 670’000 Schweizerinnen und Schweizer im Ausland über das Geschehen in der Schweiz und bietet ihnen eine breite Palette von Dienstleistungen an. Das Sekretariat der ASO ist in Bern.

Die ASO wird von rund 750 Schweizer-Vereinen und anderen Schweizer Institutionen in aller Welt getragen. Die seit 1916 bestehende Organisation wird von den Behörden als Sprachrohr der Fünften Schweiz anerkannt.

Oberstes Organ der ASO ist der Auslandschweizer-Rat (ASR), oft als «Parlament» der Fünften Schweiz bezeichnet.

Der Rat setzt sich zusammen aus Delegierten aus dem Ausland und dem Inland. Er befasst sich mit Fragen der Auslandschweizerpolitik und nimmt Stellung zu aktuellen politischen Themen aus Sicht der Fünften Schweiz.

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