Altersheime sind Mangelware in Tschechiens Osten
Die Transformation hat in Tschechien bis vor wenigen Jahren einen veritablen Wirtschaftsboom entfacht. Aber der Ausbau der sozialen Infrastruktur hinkt hinterher. Die Schweiz unterstützt in Vsetin ein Projekt zur Modernisierung eines Altersheims. Ein Augenschein:
Jan Foldyna kann sich glücklich schätzen: Der 80-jährige ehemalige Werkzeugmechaniker hat ein eigenes Zimmer im Altersheim «Ohrada» in der Kleinstadt Vsetin. Zwar ist die Infrastruktur des Altersheims ganz im Osten Tschechiens längst nicht mehr die neueste. Im zweistöckigen Gebäude hat es keinen einzigen Fahrstuhl, in den Schlafzimmern kein fliessendes Wasser und nur wenige Toiletten. Aber alles wirkt sauber und ordentlich.
Anders als die meisten öffentlichen Massenaltersheime, die preisgünstig auf der grünen Wiese und weit entfernt von Familie und Freunden der Bewohner gebaut wurden, liegt das ‹Ohrada› inmitten der belebten Stadt. Zur guten Atmosphäre des ‹Ohrada› trägt auch ein Kindergarten im gleichen Gebäude bei – die Senioren bekommen auf diese Weise etwas vom fröhlichen Kinderbetrieb mit.
Im Vergleich zu Altersheimen in der Schweiz sind die Pensionäre im Vsetiner Heim sichtbar jünger. Beim Besuch des Journalisten aus der Schweiz herrscht eine muntere Stimmung. Auf Geselligkeit wird grossen Wert gelegt. Davon zeugen häufige Besuche. Auch trifft man sich vormittags zur Tee-Party mit Lesungen. Nicht nur in den Gemeinschaftsräumen, auch in den Gängen werden Begegnungen spontan für kurze und längere Schwätzchen genutzt. Für Gesprächsstoff sorgt jeweils auch die Hauszeitung.
Fehlende soziale Infrastrukturen
In der Region von Vsetin sind fast 40% der Erwerbstätigen in der Industrie beschäftigt. Im Vergleich zu jenen in Prag liegen die Löhne hier rund einen Drittel tiefer. Nach dem Kalten Krieg ging der Region der grosse sowjetische Exportmarkt verloren. Dafür profitiert sie seit der Transformation wegen ihrer Tradition als Industriestandort von der Auslagerung industrieller Produktion aus Westeuropa.
Mit dem Ausbau der sozialen Infrastrukturen aber hapert es. Für die vielen älteren Leute – Tschechien kämpft mit denselben demografischen Problemen wie der Rest Europas – im 28’000 Einwohner zählenden Städtchen Vsetin gibt es für die Betagten nur die 32 Betten im ‹Ohrada›. «Das nächste Altersheim, ein spitalartiger, öffentlich betriebener 200-Betten-Betrieb, liegt 30 Kilometer weit entfernt», sagt Heimleiter Dan Zarsky von der Diakonie CCE, welche das Altersheim «Ohrada» führt, gegenüber swissinfo.ch .
Das tschechische Diakoniewerk ist eine evangelische, uneigennützige Organisation, die nach dem Untergang des Kommunismus sofort wieder auflebte.
Die lokale Diakonie CCE ist Teil des gesamttschechischen Diakoniewerks, das aus 32 weiteren lokalen Diakonien, Behindertenschulen sowie Flüchtlings-, Jugend- und Roma-Institutionen besteht. Es sei nach Caritas die zweitgrösste nicht-staatliche Institution im Pflegebereich in Tschechien, sagt Zarsky.
«Bisher zahlen wir symbolisch eine Krone Miete an die derzeitige Lokalregierung. Aber eine neue Regierung könnte wieder eine Marktmiete verlangen.» Die Immobilie gehöre zwar der Stadt, doch das Diakoniewerk verfüge über einen langfristigen Nutzungsvertrag. Auch ein Kauf des Gebäudes sei in Diskussion. Dann könnte die Diakonie investieren, ohne vorher aufwändige und langwierige Gesuche an die Behörden stellen zu müssen.
Ausbau und 3. Stockwerk dank Erweiterungsbeitrag
Das Gebäude des Altersheims ‹Ohrada› diente bis 2007 als Pflegerinnenschule. «Deshalb war dieses Haus zu Beginn gar nicht richtig geeignet für Senioren», sagt Zarsky.
Um das Gebäude den Bedürfnissen der betagten Bewohner anzupassen, möchte Zarsky mit dem Geld aus dem sogenannten «Erweiterungsbeitrag» aus der Schweiz ein weiteres Stockwerk aufbauen. Auch das Frisch- und Abwasser-System sowie die sanitären Anlagen sollten dringend erneuert werden.
Dem Erweiterungsbeitrag, auch «Kohäsions-Milliarde» genannt, hatte das Schweizer Stimmvolk 2006 im Rahmen des «Bundesgesetzes Ost» zugestimmt. Seit 2007 finanziert die Schweiz mit dieser Milliarde Projekte zu Gunsten von zehn Ländern, die der EU 2004 beigetreten waren.
Laut Anton Hagen, dem Verantwortlichen für die Schweizer Erweiterungsbeitrags-Projekte für Tschechien und die Slowakei, unterstützt die Schweiz insgesamt zehn Altersheim-Projekte im strukturschwachen Osten mit 14,45 Mio. Franken: «Noch wichtiger als die Rehabilitation der Altersheime ist die Einführung neuerer Arbeits- und Betreuungsmethoden.» Damit würden die sozialen Ungleichheiten innerhalb Tschechiens reduziert, sagt Hagen.
«Besonders freut es uns, dass die Diakonie in Vsetin mit dem Diakoniewerk Neumünster am Zollikerberg bei Zürich einen erfahrenen Schweizer Partner gefunden hat, mit dem Ziel, eine höhere Qualität sozialer Leistungen anzubieten.»
Das Heim in Vsetin finanziert sich in erster Linie aus den Beiträgen der Bewohner respektive deren Altersrenten. Es profitiert aber auch von einer Art Staatsgarantie. Die tschechische Altersvorsorge besteht aus nur einer Säule, plus staatlich subventionierten Pflegebeiträgen. Die Bewohner von ‹Ohrada› hätten vor allem in Branchen mit niedrigen Löhnen wie Industrie, Pflege oder Buchhaltung gearbeitet. Entsprechend bescheiden seien auch ihre Renten.
Tschechien zählt 10,5 Mio. Einwohner auf einer Fläche von 79’000 Quadratkilometern.
2009 betrug die Kaufkraft im Verhältnis zum EU-Durchschnitt 82%.
In Vsetin in der Region Zlin, im Osten Tschechiens, beläuft sich das Bruttoinlandprodukt etwa auf zwei Drittel des Durchschnitts der EU der 27 Länder.
Diese östliche Grenzregion Tschechiens zur Slowakei läuft Gefahr, gegenüber anderen Landesteilen an Dynamik zu verlieren.
Die Schweiz unterstützt die Tschechische Republik für die Jahre 2007 bis 2017 mit 110 Mio. Franken. Für das Projekt ‹Ohrada› sind fast 1,6 Mio. Fr. vorgesehen. (Die EU-Fördergelder betragen für 2007/13 26,3 Mrd. Euro).
Das Geld stammt aus dem Erweiterungsbeitrag («Kohäsionsmilliarde»), den das Schweizer Volk 2006 genehmigt hat, zwei Jahre nach dem Beitritt der zehn neuen Länder Europas zur EU.
Die Mittel sind zur Verminderung der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten bestimmt. Finanziert werden konkrete Projekte in den Bereichen Sicherheit, Stabilität, Reformen, Umwelt, Infrastruktur, Förderung des Privatsektors und der sozialen Entwicklung.
Das Schweizer Erweiterungsbeitragsbüro in Prag begleitet die Umsetzung der Projekte in Zusammenarbeit mit der Nationalen Koordinationsstelle im tschechischen Finanzministerium.
Die evangelisch-protestantische Kirche hat in Tschechien eine lange Tradition.
Bereits im 15. Jahrhundert lehnten sich Anhänger der reformierten Kirche gegen den Papst auf.
Die ‹Diakonie der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder› geht auf Jan Hus zurück – einem Reformator, der bereits vor Zwingli und Calvin gewirkt hatte.
Als eine der grössten sozialen Organisationen von Tschechien ist sie heute in das gesamteuropäische Netzwerk ‹Eurodiaconia› integriert.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch