Anerkennung Kosovos: «Ein diplomatischer Fehler?»
Der Schweizer Europarat-Sonderberichterstatter Dick Marty übt in seinem Bericht auch scharfe Kritik am Verhalten der internationalen Staatengemeinschaft. Welche Verantwortung trägt die Schweiz, die als eines der ersten Länder die Unabhängigkeit Kosovos anerkannte?
Die EU, die USA und die UNO hätten von den Verbrechen der UCK gewusst, jedoch aus Sorge um die kurzfristige Stabilität Kosovos die Augen verschlossen. Deshalb seien sie mitschuldig. Dies schreibt Dick Marty in seinem Bericht, der am Donnerstag in Paris vorgestellt wurde.
Laut dem Sonderberichterstatter des Europarats hat die diplomatische und politische Unterstützung der USA und anderer westlicher Länder dem Regierungschef des Kosovo, Hashim Thaci, nach dem Kosovokrieg den Eindruck gegeben, «unberührbar» zu sein.
Der Krieg sei allzu starr auf die schemenhafte Vorstellung eines serbischen Täters und eines unschuldigen kosovo-albanischen Opfers reduziert worden, ungeachtet einer weit komplexeren Realität, so Marty weiter.
«Trend zur Absolution albanischer Verbrechen»
Die Westschweizer Tageszeitung Le Temps nimmt die Schweiz in die Pflicht, die als eines der ersten Länder die Unabhängigkeitserklärung Kosovos anerkannte.
Die Schweiz sei dem Trend, den albanischen Verbrechen quasi die Absolution zu erteilen, gefolgt, habe diesen sogar ausgelöst, trotz «ihrer» Chefanklägerin des Uno-Kriegsverbrechertribunals in Den Haag, Carla Del Ponte, und «ihrem» Sonderberichterstatter des Europarats, Dick Marty.
«Wie blind!», schreibt Le Temps und fragt: «Wie kann ein sonst so vorsichtiges Land, das auf Menschenrechte pocht, so parteiisch sein?»
Die Schweiz trägt nach Ansicht von Le Temps heute zweifellos eine grössere Verantwortung als andere aufgrund ihrer Verbindungen zur UCK. «Wird unsere Aussenministerin Micheline Calmy-Rey Hashim Thaci noch die Hand geben können, wie sie es 2008 bei der Einweihung der Botschaft in Pristina tat?»
Richtig oder falsch?
Für SVP-Nationalrat Christoph Mörgeli ist klar: «Die Anerkennung des Kosovo durch die Schweiz war ein schwerer diplomatischer Fehler», wie er vom Blick zitiert wurde.
Anders sieht es die frühere sozialdemokratische Nationalrätin Ruth-Gaby Vermot. «Dass die Schweiz Kosovo sehr rasch anerkannt hat, finde ich immer noch richtig. Dieser junge Staat musste gestützt werden und brauchte auch Gelder für seine Entwicklung», sagte sie gegenüber swissfinfo.ch.
Von Staaten oder Befreiungsorganisationen, die im Krieg waren, wisse man ja immer, dass es Menschenrechtsverletzungen gab. Man wisse aber erst seit Dick Martys Bericht, wie furchtbar diese Verbrechen waren. «Jetzt kann mit der Aufarbeitung begonnen werden, man kann jetzt den Staat zur Rechenschaft ziehen», so Ruth-Gaby Vermot.
«Das kriminelle Netz in den Händen»
Doch weshalb setzte die internationale Gemeinschaft trotz bereits früher bestehender Vorwürfe auf Leute wie Hashim Thaci? Man habe Thaci von Anfang an hofiert und auf ihn gesetzt und dachte, was auch immer dieser Mann getan haben möge, er ist ein verlässlicher Faktor, sagte Jens Reuter, Direktor des Südosteuropazentrums in Thessaloniki gegenüber dem Schweizer Radio DRS.
«Wenn jemand ganz oben ist in der politischen Hierarchie und gleichzeitig noch das kriminelle Netz in seinen Händen hält, kann man natürlich sagen, der Mann kann das tun, was er sagt oder verspricht.»
Jens Reuter würde jedoch nicht so weit gehen, zu sagen, die internationale Gemeinschaft habe nach dem Krieg bewusst mafiöse Strukturen ignoriert, um das Land zu stabilisieren. Seiner Ansicht nach «fühlte sich die internationale Gemeinschaft verantwortlich für die Sicherheit in Kosovo, dafür also, ethnische Zusammenstösse wenn möglich zu verhindern». Dabei habe man überhaupt keine Zeit und keine Kraft gehabt, die kriminellen Strukturen zu bekämpfen.
Es sei auch eine bekannte Tatsache, dass die Staatsanwälte und die Richter in Kosovo zum einen bestechlich seien und zum andern ganz wahnsinnig eingeschüchtert. «Die wagten nicht, gegen die Kriminellen vorzugehen. Thaci scheint im Moment unersetzlich», so Jens Reuter.
EDA ruft zu Klärung der Vorwürfe auf
Das Schweizer Aussendepartement hat am Donnerstag zu Dick Martys Kritik am Verhalten der internationalen Staatengemeinschaft nicht direkt Stellung genommen. Es rief aber die betroffenen Länder – namentlich den Kosovo – aufgefordert, zur Klärung der Vorwürfe des Europarats-Ermittlers Dick Marty «beizutragen». Das EDA sprach von «sehr schwerwiegenden Vorwürfen».
«Es müssen nun durch die zuständigen Behörden – inklusive die internationalen – die nötigen rechtlichen Schritte eingeleitet werden», hiess es beim EDA auf Anfrage. Die EU-Mission EULEX führe bereits Untersuchungen zu Vorwürfen unmenschlicher Behandlung durch. «Hier ist nun in erster Linie die Justiz gefordert», verlangte das EDA.
Das Engagement der Schweiz im Kosovo habe insbesondere das Ziel, die Rechtsstaatlichkeit im Land zu stärken. Die Vorwürfe im Marty-Bericht seien «eher Argumente dafür», dass dieses Engagement weitergeführt werde.
Mit seiner Demokratischen Partei Kosovos (PDK) gewann Hashim Thaci die Parlamentswahlen im November 2007 und wurde am 9. Januar 2008 zum Ministerpräsidenten Kosovos gewählt.
Nur gut einen Monat später, am 17. Februar 2008, rief Thaci im Parlament in Pristina die Unabhängigkeit Kosovos aus.
Thaci ist einer der Mitbegründer der früheren Kosovo-Befreiungsarmee UCK, die einen bewaffneten Kampf gegen die serbische Armee und Polizei in Kosovo führte. In den Jahren 1998/99 war Thaci der politische Anführer der UCK.
Bei der Konferenz von Rambouillet vom Februar/März 1999, an der die Internationale Gemeinschaft eine friedliche Beilegung des Kosovo-Konfliktes zu erreichen suchte, stand Hashim Thaci an der Spitze der kosovo-albanischen Delegation. Nach dem Scheitern der Konferenz begann die Nato mit Luftangriffen gegen serbische Ziele.
Bereits von 1990 bis 1993 war Thaci als einer der Anführer der Studentenbewegung im Widerstand gegen die serbische Staatsmacht aktiv.
1995 wurde ihm in der Schweiz politisches Asyl gewährt, anschliessend studierte er an der Universität Zürich Südosteuropäische Geschichte und Politikwissenschaft.
Von Zürich aus war Thaci massgeblich am Aufbau der UCK beteiligt. 1998 kehrte er nach Kosovo zurück.
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