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«Arabische Herrscher befürchten Domino-Effekt»

Yemenitische Frauen protestieren in Sanaa gegen das Regime von Präsident Ali Abdullah Saleh. Keystone

Mehrere autokratische Herrscher haben Reformen angekündigt. Dies aus Angst, dass die Volksaufstände in Tunesien und Ägypten auch auf ihre Länder übergreifen könnten, sagt der Genfer Experte für den Nahen und Mittleren Osten, Hasni Abidi.

In Ägypten haben die Proteste gegen den zunehmend isolierten Präsidenten Hosni Mubarak auch am Donnerstag angehalten. Dies obwohl die Regierung der Opposition ein Angebot zu einem Dialog machte und bekanntgab, dass auch der Sohn Mubaraks bei den Wahlen von kommendem September nicht antreten werde.

In der Hauptstadt Kairo waren am Nachmittag Schüsse zu hören. Erstmals mischten sich die Streitkräfte in die gewaltsamen Auseinandersetzungen ein, indem Angehörige der Armee zwischen Demonstranten und die bewaffneten Mubarak-Anhänger gingen.

Vertreter internationaler Medien beklagten sich, dass Mubarak-Treue Jagd auf Journalisten gemacht, sie an der Arbeit gehindert und ihnen teilweise die Ausrüstung abgenommen hätten.

Das Gesundheitsministerium gab die Zahl der Todesopfer am Mittwoch, dem bisher blutigsten Tage der Revolte, mit sieben an, mehr als 860 seien verletzt worden.

In einer gemeinsamen Erklärung forderten die Staats- und Regierungschefs der EU-Länder Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien einen raschen Machtübergang in Ägypten.

Auch in Sanaa dauern die Proteste an. In der Hauptstadt Yemens gingen wiederum Zehntausende friedlich für demokratische Reformen auf die Strasse.

Von diesem Übergreifen der Proteste von Tunesien und Ägypten auf andere arabische Länder zeigt sich der Genfer Nahost-Spezialist Hasni Abidi im Gespräch mit swissinfo.ch keineswegs überrascht.

swissinfo.ch: Sind die Aufstände in Tunesien und Ägypten der Beginn einer Protestwelle in der ganzen arabischen Region?

Hasni Abidi: Es ist wie eine ansteckende Krankheit, die sich weiter ausbreitet. Ali Abdullah Saleh, der Präsident Yemens, kündigte an, dass er sich 2013 weder für eine weitere Amtszeit bestätigen lassen wolle, noch dass sein Sohn kandidieren wolle.

In Jordanien ernannte König Abdullah einen neuen Premierminister, sein Vorgänger hatte das Amt nur einen Monat ausgeübt. In Algerien, Marokko und Libyen senkten die Regierungen die Preise für Grundnahrungsmittel wie Brot.

Man kann noch nicht von einem Domino-Effekt sprechen, aber die arabischen Führer zeigen erste Spuren von Panik. Sie versprechen einerseits Reformen und bereiten andererseits ihren Abgang vor. Damit wollen sie verhindern, dass es ihnen gleich ergeht wie dem tunesischen Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali, der Ende Januar nach Saudi-Arabien flüchten musste.

swissinfo.ch: Was bedeuten die Aufstände und Unruhen in Nordafrika und dem Nahen Osten für die USA und Europa?

H.A.: Sie müssen ihre Aussenpolitik überdenken und nach neuen Verbündeten Ausschau halten. Die gegenwärtige Machthaber haben ihre Zuverlässigkeit eingebüsst.

Diese Neuorientierung aber ist eine grosse Übung, denn die Regierungen der USA und der Länder Europas haben seit dem Zweiten Weltkrieg mit den autoritären arabischen Regimes kooperiert.

swissinfo.ch: Wie schätzen Sie die Lage in Tunesien ein, kann man von einem erfolgreichen Übergang zur Demokratie sprechen?

H.A.: Ein solcher Übergang ist im aktuellen Tunesien nur sehr schwer vorstellbar, eher sehen wir eine politische Veränderung. Demokratisierung hiesse: eine neue Verfassung und Parlaments- und Präsidentenwahlen. Erst daran könnten wir messen, ob der Übergang zur Demokratie erfolgreich war.

Heute können wir aber sicher sagen, dass das autokratisch-diktatorische Regime Ben Ali durch ein offeneres ersetzt wurde, das politische Meinungsäusserung auf alle Seiten zulässt. Zudem hat die neue Regierung neue Wahlgesetze angekündigt – ein gutes Zeichen für Tunesien.

swissinfo.ch: Gibt es Parallelen zwischen Tunesien und Ägypten?

H.A.: Beide Länder verfügten seit über 25 Jahren über dasselbe politische System autokratischer Regimes, und in beiden Ländern versuchten die Herrscher, ihre Macht durch Erneuerung aus der eigenen Familie zu erhalten.

Die Regierungsführung war schlecht, als Folge der schwierigen ökonomischen und gesellschaftlichen Situation. Diese mündete in sehr hohe Arbeitslosigkeit, grassierende Korruption und mangelnde Zukunftsperspektiven, was insbesondere bei der Jugend zu Wut und Unruhe führte. Es bedurfte nur noch eines zündenden Funkens, um die Menschen auf die Strassen zu bringen.

In Tunesien stürzte das Regime rasch, weil ihm die Armee die Unterstützung versagte. Weil die Opposition über keine politischen Führer verfügt, besteht kaum das Risiko von Spaltungen.

Anders in Ägypten. Mubarak ist zwar unter Druck, doch sein Regime ist viel stärker und stabiler. Die Armee wird ihn nicht einfach so fallen lassen, weil dies für die weitere politische Entwicklung schlecht wäre. Die Streitkräfte werden auch deshalb länger zu ihm halten, weil sie eng an die politische und wirtschaftliche Macht eingebunden sind.

Tunesien

Junge unter 25 Jahren: 42%

Anteil Studierende: 35,2%

Arbeitslose zw. 15-29 J.: 31,2%

Algerien

Junge unter 25 Jahren: 47%

Anteil Studierende: 31%

Arbeitslose Gruppe 15-29 J.: 21,5%

Marokko

Junge unter 25 Jahren: 48%

Anteil Studierende: 11,5%

Arbeitslose Gruppe 15-29 J.: 17,6%

Ägypten

Junge unter 25 Jahren: 52%

Anteil Studierende: 28%

Arbeitslose Gruppe 15-29 J.: 17%

Jordanien

Junge unter 25 Jahren: 54%

Anteil Studierende: 36%

Arbeitslose Gruppe 15-29 J.: –

Syrien

Junge unter 25 Jahren: 55%

Anteil Studierende: 21,7%

Arbeitslose Gruppe 15-29 J.: 19,3%

Der Politikwissenschafter ist Experte in arabische Fragen, über die er zahlreiche Fachartikel und Bücher veröffentlicht hat.

Abidi ist Direktor des 2000 in Genf gegründeten Zentrums für Recherchen und Studien über die arabische und mediterrane Welt (Cermam).

Übertragung aus dem Englischen: Renat Künzi

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