Atomausstieg: mutiger Entscheid mit Unbekannten
Am 25. Mai hat die Schweiz die Weichen für den schrittweisen Ausstieg aus der Atomenergie gestellt. Die Schweizer Presse reagiert mehrheitlich positiv. Allerdings sei der Ausstieg nicht umsonst zu haben, und die Umsetzung stehe noch in den Sternen.
Von einem «historischen Tag», einem «mutigen Entscheid», der «vernünftig und kohärent» und für «die Zukunft der Schweiz eine grosse Chance» sei, war in den Zeitungen am Tag danach unter anderem zu lesen.
Schnell wird allerdings auch vor zu viel Übermut und unbegrenztem Optimismus gewarnt, denn der Weg zu einer atomfreien Schweiz sei noch lang und voller Hürden.
Die Lausanner Zeitung 24heures etwa spricht von einer «Strategie mit zahlreichen Unbekannten». Die Folgen dieses Entscheids seien enorm, so würden etwa die Stromkosten massiv steigen.
Für einmal habe sich die Schweizer Regierung «dynamisch» gezeigt, schreibt das Tessiner Blatt Corriere del Ticino.
Und die Tessiner Zeitung La Regione bezeichnet den Entscheid des Bundesrats als «stark», der dazu diene, Klarheit zu schaffen. «Allen ist jedoch bewusst, dass mittelfristig neue Ressourcen gefunden werden müssen, um die Stromversorgung zu sichern, die heute mit 40% durch Kernenergie garantiert ist.»
Der Entscheid sei «eine starke Geste, die man noch konkretisieren muss», heisst es in der Tribune de Genève. Denn der von Energieministerin Leuthard präsentierte neue Strom-Mix sei erst skizzenhaft.
Ein politisches Signal
Dennoch begrüsst das Genfer Blatt die Schnelligkeit und den Mut der Schweizer Regierung nach der Katastrophe von Fukushima. «Während die ganze Welt resigniert und an einer Technologie festhält, die eine veritable Zeitbombe darstellt, wagt sie, dem Bau neuer AKW eine Absage zu erteilen und schlägt den schrittweisen Atomausstieg vor.»
Auch der Bund und der Zürcher Tages-Anzeiger schreiben von einem «Atomausstieg mit offenem Ende». Die Kernenergie sei nach Fukushima für Jahrzehnte keine Option mehr, weil sie politisch chancenlos sei. «Also kann der Bundesrat vernünftigerweise auch nicht darauf bauen. Bei genauem Hinsehen entpuppt sich der gestern verkündete Atomausstieg vor allem als Realpolitik.»
Der Entscheid sei aber lediglich ein Signal, so die beiden Zeitungen. «Ob er zur ‹Energiewende› führt, zur umweltschonenden, nachhalten Stromproduktion, ist völlig offen.» Das bestimmten nicht die sieben Bundesräte, sondern das Parlament und «vor allem wir selber».
Realistische Energiewende?
Der Kommentator warnt denn auch vor einer politischen Blockade, sollte der «nötige Umbau unserer Energieversorgung» keine Mehrheit finden, weil die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger ihr Portemonnaie nicht belasten wollten. «Dann könnte durchaus passieren, was heute undenkbar ist – dass wir Fukushima vergessen haben und den Atomausstieg widerrufen.»
Ziemlich kritisch äussert sich die Neue Zürcher Zeitung. Der Bundesrat habe die «bewährte energiepolitische Strategie der Schweiz beerdigt», schreibt sie unter dem Titel «Der Startschuss zum energiepolitischen Seiltanz».
Für die NZZ ist der bundesrätliche Entscheid weitgehend politischer Natur und reflektiere die Positionsbezüge der Parteien. Auffällig sei, dass auf bürgerlicher Seite keine Lust mehr bestehe, die Kernkraft zu verteidigen.
«Viele langjährige Befürworter gingen bisher offenbar davon aus, das Restrisiko eines Unfalls in Extremsituationen wie in Japan sei ähnlich wie das Waldsterben eine Erfindung grüner Kreise.»
Energiepolitisches Restrisiko
Die Neue Zürcher Zeitung bedauert in ihrem Kommentar auch, dass keine sachliche Debatte geführt wurde über «Risiken und Gefährdungspotentiale». Denn der Ausstieg sei nicht umsonst zu haben, und es bleibe fraglich, ob eine Mehrheit bereit sei, die Konsequenzen zu tragen.
Mit seinem «forschen Ausschliessen der Kernkraft» wolle der Bundesrat Klarheit schaffen. «Er stellt das Parlament damit allerdings vor Aufgaben, die technisch zwar lösbar sind, deren politische und wirtschaftliche Umsetzung aber in den Sternen steht. Es bleibt ein fragwürdiges energiepolitisches Restrisiko.»
Die Atomkatastrophe in Japan hat zwar in den meisten EU-Ländern den Widerstand gegen die Kernenergie verstärkt. Aber bislang hat nur Deutschland ein «Atom-Moratorium» verfügt.
16 der 27 EU-Staaten setzen auf Atomkraft. Es gibt 143 Reaktoren, die einen Drittel des gesamten Stroms und etwa 15% der EU-weit verbrauchten Energie produzieren.
Die meisten EU-Staaten waren in den letzten Jahren unter dem Eindruck der Klima- und Energieversorgungs-Diskussion auf eine atomfreundliche Energiepolitik eingeschwenkt.
Der GAU im Atomkraftwerk Fukushima hat bislang keinen grundlegenden Kurswechsel ausgelöst.
Einzig die deutsche Regierung beschloss am 14. März ein Atom-Moratorium. Alle 17 deutschen Atomkraftwerke sollen einer Sicherheitsprüfung unterzogen und dazu die 7 ältesten Kraftwerke 3 Monate lang stillgelegt werden.
Frankreich dagegen, wo 59 AKW über 75% des Stroms produzieren, will an der Kernenergie festhalten.
Wasserkraft: 55,8%
Kernkraft: 39,3%
Andere: 2,9%
Neue erneuerbare Energien
(aus Abfall, Biomasse und Biogas, Sonne, Wind): 2%
(Quelle: Bundesamt für Energie)
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