Atomausstieg zwischen Freude und Zweifel
Mit leichter bis starker Skepsis, aber Verständnis fürs Pragmatische, kommentiert die Schweizer Presse den am Mittwoch vom Nationalrat beschlossenen Atomausstieg. Den Grünen könnte er noch zu schaffen machen.
Mit «Dem Ausstieg ist nicht zu trauen» überschreibt der Tages-Anzeiger seinen Kommentar. «Grün, solange es nicht weh tut», titelt die Neue Zürcher Zeitung. «Ein süss-säuerlicher Erfolg für die Grünen», schreibt der Westschweizer Le Temps. Erfreut, aber doch skeptisch geben sich die Stimmen in der Schweizer Presse zum nationalrätlichen Atomausstieg von gestern Mittwoch.
Der Nationalrat habe keinen «Atomausstieg aus Überzeugung» beschlossen: Der Tagi geht auf das doppeldeutig Wendige dieses Beschlusses zur Energiewende ein: Hans Grunder, Präsident der Bürgerlich-demokratischen Partei (BDP), brilliere in der «Disziplin der Wendigkeit». Noch im Februar habe er für ein neues AKW in Mühleberg gekämpft, im März habe er abgeschworen.
Und für den Parteichef der Christlich-Demokraten (CVP), Christophe Darbelley, sei die Verlockung zu gross gewesen, Energieministerin «Doris Leuthard als Angela Merkel der Schweiz zu positionieren – in ihrer historischen Rolle als Ausstiegsministerin».
Auch die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP.Die Liberalen) kommt im Tagi-Kommentar schlecht weg: Sie habe sich in die Meinungslosigkeit gerettet. Der Tages-Anzeiger nimmt den Politikern nicht ab, den echten Ausstieg wirklich zu wollen: Beschlossen habe der Nationalrat nur, dass die Schweiz auf ein neues AKW verzichten soll. Dies nach sei nach Fukushima «ohnehin fiktiv» gewesen.
Und nach den Wahlen?
Doch selbst dem langsamen Atomausstieg «wagen wir nicht so recht zu trauen». Und was passiere nach den Parlamentswahlen diesen Herbst? Vielleicht halte sogar der Ständerat (der sich im Herbst mit diesem Entscheid befassen wird) die Türe für die Atomkraft offen. Glauben sollte man den Politikern erst, schliesst der Tagi, wenn sie «energisch genug die Alternativen zum Atomstrom vorantreiben».
Und da zeichnet sich eine Gegnerschaft ab, der man Inkonsequenz vorwerfen kann: Nämlich jenem Teil der Grünen, der nicht nur gegen die Atomkraft, sondern auch gegen den Ausbau von Alternativen ist.
Grimsel als Mahnmal grüner Inkonsequenz
Auf diesen Aspekt geht die Westschweizer Presse ein. Le Temps stilisiert den Grimsel respektive dessen bekämpfte Staustamm-Erhöhung als «Symbol für die Hindernisse auf dem Weg der Entwicklung erneuerbaren Energieformen».
Der Ausbau der Wasserkraft sei unumgänglich, wolle man innert 25 Jahren auf alle fünf Atommeiler verzichten. Und die grünen Energiequellen trügen erst mit einem minimalen Anteil zur Stromproduktion bei. Um hier den Widerständen bei der Projektierung alternativer Energien zuvor zu kommen, wolle der Nationalrat das Rekursrecht von Verbänden abschaffen.
Le Temps führt dies auf die am Grimsel gemachten schlechten Erfahrungen zurück, und auf die Widerstände bei der Aufrichtung von Windturbinen. Als Anstoss zur «Opfersymmetrie» verlange nun die bürgerliche Seite, die auf ihre Atomkraft verzichtee, von den Grünen und den Öko-Aktivisten ein Entgegenkommen. Für die Letzteren sei der Atomausstieg des Nationalrats deshalb ein «süss-säuerlicher Erfolg».
Kritik auch an der SVP
Leicht weniger böse gibt sich die Neue Zürcher Zeitung. Dem nationalrätlichen Beschluss sei zwar eine gewisse Logik nicht abzusprechen: «Können die alten Atommeiler nicht durch neue ersetzt werden, ist eine alternative Energiepolitik heute einzuleiten.» Und da im Schweizer Energiebereich ohnehin die öffentliche Hand stark engagiert sei, liege es am Staat, rechtzeitig die Weichen zu stellen.
Die NZZ kritisiert deshalb die Schweizerische Volkspartei (SVP) für ihren Verschiebungsantrag: «Die Hände in den Schoss zu legen, wäre auch aus Sicht der Versorgungs-Sicherheit gefährlich.»
Bezüglich der neueren AKW sei das letzte Wort noch längst nicht gesprochen: Bis auch diese Meiler abgestellt würden, werde es noch viele technischen Neuerungen geben. Die NZZ kritisiert die Zurückhaltung der Mitteparteien, wenn es um konkrete Lenkungsmassnahmen des Energieverbrauchs geht, und sieht die «gleichen Inkonsequenzen» wie in der Klimapolitik, wo man zwar grundsätzlich dafür, aber im Konkreten dagegen sei, wie die Gaskraftwerke zeigten.
Atomausstieg begünstigt auch Schreiner, Schlosser und Bauern
Der Boulevardzeitung Der Blick fiel auf, dass «nicht einmal die SVP geschlossen gegen den Ausstieg war». «Einzig der schlaue Bauer Erich von Siebenthal und die kluge Bäuerin Alice Glauser widersetzten sich dem Befehl von oben». Die beiden wüssten eben, dass bis tief in die SVP-Basis hinein den Menschen klar sei, dass mit der alten und gefährlichen Grosstechnologie Atomkraft keine Zukunft zu gestalten sei.
Der Blick spricht auch die enormen wirtschaftlichen Chancen der Energiewende an. «Erneuerbare Energien schaffen übers Land verteilt Arbeitsplätze», und zwar auch für Schreiner, Schlosser und Maurer.
«Triumph linker Realpolitik»
Mit einem möglichen Bremser im Ständerat im September rechnet auch die Aargauer Zeitung. Zwar sei die Mehrheit im Nationalrat derart klar ausgefallen, dass der Zweitrat ein deutliches Signal erhalten habe. Aber «zumal christdemokratische Ständeräte» hätten mit ihrer Haltung bisher geschwankt.
Bemerkenswert findet die AZ das Zusammenspiel von CVP und BDP mit den führenden Energiepolitikern der SP, die als «Souffleure im Hintergrund» zur Verfügung gestanden seien: Der Entscheid sei deshalb ein «Triumph linker Realpolitik».
Als Erstrat befasste sich der Nationalrat am 8. Juni in einer Sondersession mit insgesamt 134 parlamentarischen Vorstössen zu Energiefragen, Kernenergie und erneuerbare Energien.
Drei Anträge, die den Ausstieg aus der Kernenergie fordern, wurden gutgeheissen; einer von der Grünen Partei, einer von der BDP und einer von CVP-Nationalrat Robert Schmidt.
Letzterer liegt auf der Linie des am 25. Mai vom Bundesrat vorgelegten Entwurfs für den Ausstieg aus der Kernenergie. Er sieht jedoch kein genaues Datum für das Abschalten der fünf Schweizer Reaktoren vor.
Alle drei Anträge waren von der SVP bekämpft worden, während sich die FDP der Stimme enthielt. Die anderen Parteien stimmten zu.
Weil die Zeit knapp bemessen war, konnte sich der Nationalrat nicht zu allen Vorstössen betreffend erneuerbare Energien äussern. Die entsprechenden Abstimmungen sollen am Donnerstag stattfinden.
Die Vorschläge des Nationalrats gehen dann an den Ständerat. Dieser wird an einer Sondersession im Herbst darüber befinden.
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