Atomspaltung – gefährlicher Geist aus der Flasche
Vor 65 Jahren richteten die Atombomben über Hiroshima und Nagasaki Zerstörung und Leid in nie da gewesenem Ausmass an. Obwohl die atomare Abrüstung seit Ende des Kalten Krieges Fortschritte macht, sieht Konfliktexperte Kurt R. Spillmann immer noch grosse Defizite.
Der Atomsperrvertrag von 1970, das Instrument der Weltgemeinschaft gegen die Weiterverbreitung von Atomwaffen, hat sich laut Spillmann als «nützliches Instrument» erwiesen.
Aber ob Atomsperrvertrag, die geplante, schärfere Nuklearwaffenkonvention oder die von der Schweiz vorgeschlagene Konvention zur Ächtung von Atomwaffen: Instrumente zur internationalen Abrüstung seien nur so wirksam, wie die Atommächte bereit seien, Kontrollorgane mit weitreichenden Kontroll- und Sanktions-Kompetenzen auszustatten. Genau hier stellt der Zürcher Experte für Sicherheitspolitik und Konfliktanalyse nach wie vor grosse Defizite fest.
Der Historiker Spillmann war Gründer und bis 2002 Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik und Konfliktforschung an der ETH Zürich.
swissinfo.ch: 65 Jahre nach Hiroshima und Nagasaki kennt die Welt weitere Problemfelder, Stichworte Klimaerwärmung, internationaler Terrorismus, Armut, Migrationsbewegungen, Clash der Kulturen/Religionen, Finanz-/Wirtschaftskrise. Wo ist die Abrüstungsfrage platziert?
Kurt R. Spillmann: Nach dem Ende des Kalten Krieges ist sie in der öffentlichen Wahrnehmung weit nach unten gerückt. Ausnahme sind die vier Fälle Pakistan, Nordkorea, Iran und Israel. In Tat und Wahrheit ist das Thema aber nach wie vor bedeutend.
swissinfo.ch: Ist es dem Atomwaffen-Sperrvertrag von 1970 zu verdanken, dass es nach Hiroshima und Nagasaki und dem atomaren Wettrüsten im Kalten Krieg nie mehr zu einem Atomwaffeneinsatz kam?
K.R.S.: So direkt würde ich das nicht sagen. Der Atomwaffen-Sperrvertrag ist ein nützliches Instrument, um den Aspirationen verschiedener Entwicklungsländer, Atommacht zu werden, einen Riegel zu schieben.
Die Beispiele Indien, Pakistan, Südafrika, Brasilien und Israel zeigen aber, dass Staaten trotz des Vertrages in die Nähe oder gar in den Besitz von Nuklearwaffen gelangen können.
Dennoch halte ich den Sperrvertrag für nützlich. Damit können die etablierten Nuklearmächte Druck machen gegen die Weiterverbreitung von Atomwaffen.
swissinfo.ch: Bringt die Nuklearwaffenkonvention mit ihren konkreteren Forderungen die Welt auf dem Weg zur atomwaffenfreien Zone vorwärts?
K.R.S.: Das ist die Absicht. Doch vorläufig ist das noch nicht mehr als die – wunderschöne – Wunschvorstellung, dass sich sämtliche Staaten einer globalen Übereinkunft anschliessen und einen Verzicht auf Nuklearwaffen erklären.
Die völkerrechtliche Wirksamkeit eines solches Instruments wird immer vom Willen der Mitglieder abhängen, Kontrollinstanzen mit Macht auszurüsten, damit sie den Vertrag auch durchsetzen können.
Die Internationale Atomenergie-Agentur IAEA als ‹Wachhund› der UNO ist nur insoweit mächtig, als sie das Backing der Mitglieder des UNO-Sicherheitsrates hat.
Es ist wichtig, dass es diese Instrumente gibt. Aber man darf sich davon nicht die Befreiung der Welt von den Nuklearwaffen erhoffen. Die Atomspaltung, einmal erfunden, kann nicht rückgängig gemacht werden.
Der Geist ist aus der Flasche. Ihn jetzt einigermassen unter Kontrolle zu halten, ist äusserst schwierig.
swissinfo.ch: Die Schweiz hat eine Initiative lanciert, A-Waffen in einer Konvention international zu ächten, analog zu chemischen und biologischen Waffen. Hat sie damit Aussicht auf Erfolg?
K.R.S.: Vorerst nicht. Die Initiative geht in dieselbe Richtung wie die generelle Abrüstungskonvention. Auch hier gilt: Ein solcher Vertrag würde nur soweit funktionieren, wie die Macht der Kontrollorgane reicht. Davon, dass einer solchen Kontrollbehörde weitreichende Macht abgetreten wird, sind wir leider immer noch sehr weit entfernt.
swissinfo.ch: Es fehlt also am politischen Willen der grossen Atommächte?
K.R.S.: Richtig. Es ist wie mit der UNO an sich. Sie ist ein einzigartiges Instrument, um die Völker nach Regeln zu organisieren. Das erspart viel Gewalt, denn Konflikte müssen nicht gewaltsam ausgetragen, sondern können ausgehandelt werden.
Doch die UNO hat zu wenig Macht, um ihre Regeln immer durchzusetzen. Und die Staaten wollen diese Macht nicht abtreten, sondern selber darüber verfügen.
So auch das Thema Nuklearbewaffnung. Vorausgesetzt ist stets der Wille und der Konsens aller Mitglieder zu Kontrollmassnahmen und Kontrollbefugnissen.
Die Bereitschaft zu internationaler Kooperation und Durchsetzung dieser Regeln aber schwankt, wie die Geschichte zeigt. George W. Bush, aber auch andere massgebende Politiker, hatten für die UNO nur Verachtung übrig.
swissinfo.ch: Zu Iran: Was würde es für die Region Naher und Mittlerer Osten bedeuten, wenn Teheran über Atomwaffen verfügen würde?
K.R.S.: Es wäre ein grosser Prestigegewinn und Machtzuwachs für den Iran, ein Staat mit sehr alter Kultur und sehr guter Organisation.
Aber aufgrund der existierenden Nuklearwaffen in den Händen der Grossmächte und auch aufgrund der völkerrechtlichen Instrumente bin ich überzeugt, dass Iran keine Atomwaffen einsetzen würde.
Es besteht aber die Gefahr, dass fundamentalistische, islamistische Organisationen in den Besitz von Atomwaffen kommen könnten. Al Kaida aspiriert ja erklärtermassen darauf. Diesbezüglich stellt Pakistan eine grössere Gefahr dar als Iran.
Renat Künzi, swissinfo.ch
Atomwaffenkritiker behaupten, dass 1945 nicht die Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki zur Kapitulation Japans geführt hatten, sondern die Kriegserklärung Russlands.
Kurt Spillmann hält diese Theorie für falsch. «Sie beruht ausschliesslich auf einer Rechnung der strategischen Kräfte und Potenziale und lässt den emotionalen Faktor komplett ausser Acht.» Diesen hält er aber für entscheidend.
«Die Wirkung der beiden Atombombenabwürfe über Japan war überwältigend. Es war eine absolut neue Waffe, mit der noch niemand gerechnet hatte, abgesehen von wenigen Experten. Die Bevölkerung kannte deren Potenzial nicht.»
Er betont, dass Japan damals immer noch «bis an die Zähne» bewaffnet gewesen sei, die Armee wäre immer noch in der Lage gewesen, das eigene Land effektiv zu verteidigen.
«Diese beiden Hammerschläge und die Furcht vor weiteren solchen führten dazu, dass die Militärs, die eigentlich weiterkämpfen wollten, nach dem Machtwort des Kaisers zur Kapitulation bereit waren», so Spillmann.
Es mag surreal anmuten, aber die Schweiz verfolgte bis 1969 die Entwicklung einer eigenen Atomwaffe.
Diese aktive Atomwaffenpolitik sei einer Befangenheit im klassischen militärischen Denken entsprungen, sagt Spillmann.
Nuklearwaffen hätten damals als normale, klassische Bomben gegolten, nur mit viel grösserer Zerstörungskraft, aber überlebbar.
Dabei sei aber übersehen worden, dass Atomwaffen die Schweiz zum strategischen Ziel für die Atommächte gemacht hätte.
«Das hätte die Gefahr für die Schweiz massiv erhöht. Ich bin froh, dass diese sehr gefährliche Politik aufgegeben wurde», so Spillmanns Kommentar.
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