Auch ohne SVP bleibt Konkordanz im Bundesrat erhalten
Die SVP hat keine Vertreter mehr im Bundesrat. Nach dem Parteiausschluss von Eveline Widmer-Schlumpf bricht nun Samuel Schmid freiwillig mit der Mutterpartei. Trotzdem behalte die Regierung ihren "konkordanten Charakter", sagt Politforscher Michael Hermann.
swissinfo: Die Schweizerische Volkspartei (SVP) hat nun offiziell keine Vertreter mehr im Bundesrat. Ist dies definitiv das Ende der Konkordanz?
Michael Hermann: Es ist das Ende der arithmetischen Konkordanz. Doch das System hat heute bis zu einem gewissen Grad immer noch einen konkordanten Charakter.
Der Bundesrat ist immer noch breit abgestützt, wir haben weder eine Mitte-Links-Regierung noch eine Mitte-Rechts-Regierung.
Die Regierungsmitglieder sind kompromissbereit und arbeiten – zumindest in Ansätzen – gemeinsam auf mehrheitsfähige Lösungen hin.
swissinfo: Wie geht es nun weiter?
M. H.: Ich sehe in der gegenwärtigen Entwicklung nicht den Anfang von etwas völlig Neuem. Für mich zeichnet sich kein Übergang zu einem Konkurrenzsystem ab. Ich glaube nicht, dass die Christlichdemokratische Partei (CVP) und die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP) bereit sind, eine Rechts-Regierung oder eine Mitte-Links-Regierung zu bilden. Dazu fehlt ihnen der Mut.
Das System der direkten Demokratie steht im Widerspruch zum Konkurrenzsystem. Und ich glaube nicht, dass die Schweiz und die SVP, die immer stark an diesen schweizerischen Institutionen gehangen haben, die direkte Demokratie mitsamt Referendum abschaffen wollen.
Die direkte Demokratie ist ein wichtiges, ausgleichendes Instrument, das der Opposition ermöglicht, sachpolitische Korrekturen anzubringen. Die Abstimmung vom letzten Sonntag hat deutlich gezeigt, dass es in der Bevölkerung keine «Pauschalopposition» gibt.
Es wird weiterhin Sachpolitik betrieben, und wenn die SVP mit Vorlagen kommt, die nicht mehrheitsfähig sind und sie keine guten Argumente bringt, dann wird sie auch in Zukunft die Legiferierung nicht stoppen oder bremsen können.
swissinfo: Besteht nicht die Gefahr, dass die SVP nun noch fleissiger das Referendum ergreift als vorher und damit eine Blockadepolitik betreibt?
M.H.: Ich gehe stark davon aus, dass die Bevölkerung differenziert entscheidet. Die sachpolitische Einmischung und Mitbestimmung wird in der Schweiz sehr hoch gewichtet. Es gehen mehr Leute abstimmen als wählen.
Die Bevölkerung denkt nicht, wie kann ich der Regierung eins auswischen. Das ist nicht Teil der schweizerischen politischen Kultur. Dieser Mechanismus ist eher in Ländern zu beobachten, wo selten abgestimmt wird. Da haben Referenden häufig eine Art Veto-Funktion gegenüber der Regierung.
swissinfo: Wird die SVP nach den Wahlen in vier Jahren wieder im Bundesrat sitzen?
M.H.: Man wird weiterhin versuchen, möglichst viele Kräfte in die Regierung einzubinden. Wenn sich die SVP in einem gewissen Grad kompromissbereit zeigt, dann werden die anderen Parteien mittelfristig auch ein Interesse daran haben, sie wieder in die Regierung miteinzubeziehen.
Die Bürgerlichen sind bisher auch gut damit gefahren, die Linke einzubinden. Diese hat eine Minderheitsrolle und ist dadurch ziemlich handzahm. Dies würde sich wahrscheinlich ändern, wenn man die Sozialdemokratische Partei (SP) aus dem Bundesrat ausschliessen würde.
swissinfo: Inwiefern ändert sich die Situation für die beiden Bundesräte Samuel Schmid und Eveline Widmer-Schlumpf, wenn sie der von der SVP Schweiz abgespalteten Partei beitreten?
M.H.: Obwohl sie nicht mehr Teil der Fraktion waren, konnten sich beide bisher als SVP-Mitglieder im Geiste verkaufen, denn sie wurden ja als SVP-Vertreter gewählt.
Schwierig wird es, wenn sie mit ihrer eigenen Partei in einer anderen Fraktion politisieren. Wenn die beiden beispielsweise mit ihrer Partei in die CVP-Fraktion gehen würden, hätten wir eine Art Mitte-Links-Regierung.
Aber so lange die gewählten Bundesräte nicht zurücktreten, wird dieses System bis zu den nächsten Wahlen relativ stabil weiterbestehen.
swissinfo: Rund 30% der Schweizer Bevölkerung sind nicht mehr in der Regierung vertreten, das gab es in der 50-jährigen Geschichte des Konkordanzsystems noch nie. Wie ist es so weit gekommen?
M.H.: Die heutige Situation ist eine Folge davon, dass das bürgerliche Kartell nach dem Kalten Krieg langsam zusammen gebrochen ist. Seit Beginn der EWR-Debatte anfangs der 1990er-Jahre hat sich unter den bürgerlichen Parteien eine Art Konkurrenz eingestellt.
Das starke Wachstum der SVP hat dazu geführt, dass die SVP immer weniger kompromissbereit wurde. Die Partei hatte das Gefühl, sie sei eine latente Mehrheitspartei, die eigentlich das Sagen haben müsste. Aber sie hat sich überschätzt und dadurch eine Gegenreaktion provoziert.
swissinfo-Interview: Corinne Buchser
Mehr
Zauberformel
In den Parlamentswahlen 2003 erzielte die SVP so viele Stimmen, dass sie – auf Kosten der CVP – Anspruch auf einen zweiten Sitz im Bundesrat erhob.
Bei den Bundesratswahlen 2007 wurde Eveline Widmer-Schlumpf (SVP) anstelle von Christoph Blocher (SVP) gewählt.
Danach entschied die SVP-Parteileitung, ihre beiden Vertreter in der Regierung – Eveline Widmer-Schlumpf und Samuel Schmid – nicht mehr anzuerkennen und in die Opposition zu gehen.
Von Eveline Widmer-Schlumpf verlangte die SVP den Rücktritt aus der Landesregierung und der eigenen Partei. Die Bundesrätin hat sich diesen Forderungen klar widersetzt.
Ursprünglich wollte die SVP Schweiz ihr ungeliebtes Mitglied direkt ausschliessen. Ein Rechts-Gutachten kam jedoch zum Schluss, dass die Bündner Kantonalsektion für einen Ausschluss zuständig sei.
Der Parteivorstand der SVP Graubünden hat sich am 10. April hinter Widmer-Schlumpf gestellt. Die Delegierten-Versammlung vom 23. April stützte diesen Entscheid.
Am 1. Juni beschloss der SVP-Zentralvorstand, die Bündner Sektion auszuschliessen.
Am 2. Juni stellte die Bündner die Gründung einer neuen, liberalen Partei in Aussicht. Gleichentags forderten 37 Exponenten der SVP Bern – darunter Bundesrat Samuel Schmid – den Ausstritt ihrer Sektion aus der Mutterpartei.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch