Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Aufruhr in Ägypten bringt auch Allianzen ins Wanken

Die Schatten des ägyptischen Volksaufstands fallen auch auf die Nachbarländer, nicht nur auf Israel und Palästina. Keystone

Die Massenproteste in Ägypten bringen nicht nur das Regime von Hosni Mubarak ins Wanken, sondern auch bestehende Allianzen im Nahen Osten. Während Israel befürchten muss, einen verbündeten Nachbarn zu verlieren, kommen in Palästina Hoffnungen auf.

Die Regierung Obama hat sich öffentlich vom ägyptischen Regime abgewandt und Präsident Mubarak zum sofortigen Rücktritt aufgefordert. Wenn die USA das Regime seines wichtigsten Verbündeten in der Region fallen lassen, könnten sich die Allianzen in der gesamten Region verändern.

Ägypten galt bisher als zentrales Bollwerk gegen den islamischen Fundamentalismus, was Washington mit mehr als einer Milliarde Dollar Militärhilfe pro Jahr honoriert hat.

Von den Beziehungen zwischen Ägypten und den USA habe Israel in den letzten Jahrzehnten profitiert, sagt Jean-Jacques Joris, ehemaliger Leiter der Schweizer Vertretung in Ramallah. «Die Pax Americana hat in den letzten 35 Jahren einen Status quo geschaffen, dessen Hauptnutzniesser – wenn nicht sogar dessen einziger Nutzniesser – Israel ist.»

Für die Palästinenser sei diese Politik stets verheerend gewesen: «Die Isolation des Gazastreifens und der stetige Ausbau der illegalen israelischen Siedlungen in Ostjerusalem und der West Bank seien von den USA und Europa seit Jahrzehnten toleriert worden, sagt Joris. «Das ist wohl ein blinder Fleck westlicher Weltanschauung.»
 
Wenn Mubaraks Regime nun tatsächlich fallen und dies zu mehr Demokratie führen sollte – zu einer Demokratie, in der die tatsächliche Meinung der Bevölkerung reflektiert werde -, dann müsse Ägypten eine neue Balance finden.

Neue Balance

«Zwischen einer rationalen Aussenpolitik, welche die massive Wirtschaftshilfe der USA nicht versiegen lässt, und einer Aussenpolitik der Gefühle, die den Nachbar Israel für seine Aktionen und seine Versäumnisse verantwortlich macht und so einen Friedensprozess einläuten könnte, der diesen Namen auch verdient». Denn «im Herzen sind die Ägypter natürlich pro-palästinensisch», sagt Jean-Jacques Joris.

Israel ignorierte Bevölkerung in Nachbarländern

Auch die linksliberale israelische Tageszeitung Ha’aretz thematisiert diese bisherige Allianz zwischen Ägypten und Israel: Mubarak habe Israel in der Vergangenheit stets eine regionale Stabilität und Sicherheit garantieren können (1. Februar 2011). Aber «diese Ansicht hat dazu geführt, dass Israel die Wünsche und Sorgen der Bevölkerung der umliegenden Länder stets ignorierte, ja jene Menschen im schlimmsten Fall gar als Israel-Hasser abstempelte.»

Israel habe sich, so Ha’aretz im weiteren, stets als westliches Land verstanden und sich daher weder um die Sprache, noch die Kultur und schon gar nicht um die öffentliche Meinung in seinen Nachbarstaaten gekümmert.

Netanjahu müsse endlich Frieden mit den Palästinensern und mit Syrien anstreben, damit Israel ein besserer Nachbar werde, kommentiert die Zeitung.

Ungute Erinnerungen an Kuwait-Überfall

Die meisten andern israelischen Medien berichten nur spärlich über die Entwicklung in Ägypten. Zurückhaltung üben auch die palästinensischen Medien: Sie fürchten, dass sich die Ereignisse von 1991 wiederholen könnten, als Saddam Hussein in Kuwait einfiel und Yasser Arafat übereilt seine Unterstützung zusicherte.

Die Folge war, dass die Palästinenser aus mehreren Golfstaaten ausgewiesen und ihre Guthaben eingefroren wurden. Das möchten sie mit Ägypten nicht noch einmal erleben. Allein in Kairo leben rund 28’000 Palästinenser, und viele haben dort studiert. In den Kaffeehäusern aber wird über das Thema vehement diskutiert.

Die Polizei hat Anfang Woche in Ramallah und die Hamas im Gazastreifen Solidaritätsdemonstrationen aufgelöst.

Syrische Ruhe?

«Im benachbarten Jordanien könnte es zu Demonstrationen auf der Strasse kommen, sagt Yves Besson gegenüber swissinfo.ch. Der ehemalige Schweizer Diplomat und ehemalige Direktor des UNO-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge UNRWA glaubt aber, «dass Saudiarabien dem jordanischen König zu Hilfe käme, um die Monarchie auch in diesem Land zu wahren».

Erstaunlich findet Besson die Ruhe in Syrien, ebenfalls ein Nachbarland Israels. Zwar gibt es Demonstrations-Aufrufe für den Freitag. Aber bisher «bewegte sich weder auf den Strassen Syriens noch in der Regierung etwas.» Besson schätzt, dass dies mit der Aussöhnung Syriens mit der Türkei zu tun haben könnte.»

Zweite Islamisten-Generation

Es könnte sein, so Besson, dass diese neue Achse Ankara-Damaskus sich auf die Zukunft der Region auswirke und die alte Achse Damaskus-Teheran ausgleiche. Davon betroffen wären auch der Hizbollah und die Hamas.

«In Syrien gibt es Bewegungen mit islamistischer Tendenz. Mein Gefühl sagt mir jedoch, dass dieser Islamismus der Väter, also jener, der vor 20 Jahren entstand, heute nicht mehr aktuell ist. Die neue Generation der 20- bis 30-Jährigen sind wohl eher vom türkischen Beispiel angezogen.»

Westliche Demokratie kontra nahöstliche Normen?

Der Westen sei immer an der Existenz eines gewissen Gegensatzes zwischen einer funktionierenden Demokratie abendländischen Zuschnitts einerseits und dem Respektieren von arabischen oder arabisch-muslimischen sozialen Normen andererseits interessiert gewesen, sagt Besson. «Die jüngsten Ereignisse scheinen diese Gräben aufzufüllen und möglicherweise auf ein türkisches Muster hinauszulaufen.»

Seit einem Jahrzehnt und seit zwei verschiedenen Administrationen hätten die Amerikaner, mit Hilfe Europas und besonders Grossbritanniens dem Nahen Osten mit Waffengewalt Demokratie aufzwingen wollen. Doch habe diese Politik völlig versagt. Auch im Irak, und in Afghanistan.

Es existiere eine Art Bogen vom Hindukusch bis ans Mittelmeer, der völlig neu aufgerollt werden müsse. «Ich glaube, dass es unter diesen Umständen heute für die türkischen Diplomatie viel zu tun gibt. Der türkischen Wirtschaft geht es gut. Nach der Aussöhnung mit Syrien dürfte dies auch die Wirtschaft Syriens stimulieren. Und besonders weil sich Israel den grossen Fehler erlaubt hat, sich mit der Türkei zu entzweien.»

swissinfo.ch, Christian Walther, Jerusalem, Mohamed Cherif, Genf

Mit einer Bevölkerung von 83 Millionen und einem Bevölkerungswachstum von 3% jährlich ist das Land am Nil zum Wirtschaftswachstum verdammt.

Jedes Jahr kommen 600’000 bis 700’000 junge Leute auf den Arbeitsmarkt. Die offizielle Arbeitslosenquote beträgt 9 bis 10%, die Dunkelziffer liegt aber viel höher.

Von 2006 bis 2008 wuchs Ägyptens Wirtschaft 7% jährlich. Laut OECD betrug das Wachstum 2009/2010 5,1% – eigentlich ein gutes Zeichen.

Doch sollte es laut Regierungsplan jährlich rund 6% zunehmen, was in den vergangenen Jahren – auch wegen der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise – nicht mehr der Fall war.

So trug vor der Krise der Tourismus normalerweise rund 11% zum BIP bei, aber seither gab es weniger Besucher.

Wenn sich die Weltwirtschaft abkühlt, durchqueren weniger Schiffe den Suezkanal, was üblicherweise 3% des BIP ausmacht.

Die Rimessen der Auslandägypter beliefen sich vor der Krise auf rund 4%. Auch die ausländischen Direktinvestitionen, die seit 2003 von 1 Milliarde auf 2007 fast 13 Milliarden Dollar (über 8% von BIP) gestiegen waren, sind seither zurückgefallen.

Trotz allen Anstrengungen beläuft sich Ägyptens BIP pro Kopf 2010 auf nur 2000 Dollar, was etwa der Hälfte des tunesischen Werts beträgt.

(Quelle: OECD)

In Ägypten sind mehr als 100 Schweizer Unternehmen tätig. ABB, Clariant, Novartis, Nestlé, Bühler, SGS, Roche, Credit Suisse und UBS. Und natürlich die Mövenpick Hotels, deren Gründer Ueli Prager als erster bereits in den 70er Jahren das Land erschloss.

Mövenpick beschäftigt in Ägypten 2800 Mitarbeitende und hat bekannt gegeben, dass die Betriebe offen bleiben. Andere Firmen stellten sich auf kurzfristige Produktions-Unterbrechungen ein.

Nach Südafrika, Libyen und Algerien (Erdgas und Erdöl) war 2009 Ägypten der viertgrösste Handelspartner der Schweiz in Afrika.

Die Schweizer Exporte erreichten 656, die Importe 109 Mio. Franken.

Im Februar 2009 besuchte die damalige Volkswirtschaftsministerin Doris Leuthard mit einer Delegation von Wirtschaftsvertretern Ägypten.

Die Efta, deren Mitglied die Schweiz ist, hat mit Ägypten 2007 einen Freihandelsvertrag unterzeichnet. 

Wenn das Volks in Ägypten auf die Strasse geht, spürt das auch die Immobilien- und Tourismusgruppe Orascom Development Holding der Unternehmerfamilie Sawiris. Deren Aktien sind in der Folge der Unruhen getaucht.

Die Gruppe erwirtschaftet den Grossteil des Umsatzes mit Hotels in Ägypten, hat aber mit ihrem Projekt in Andermatt diversifiziert. 2008 hat Samih Sawiris den Hauptsitz in die Schweiz verlegt. 

Übertragung aus dem Französischen: Alexander Künzle

Meistgelesen
Swiss Abroad

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft