Ausschaffungs-Initiative: «Ein Sieg der Angst»
In der Schweizer Presse gibt es keinen Röstigraben bei der Ausschaffungs-Initiative. Sie deutet das Resultat als Reaktion auf Globalisierungsängste, die von der SVP "ausgenutzt" wurden. Ein grosses Fragezeichen bleibt die Umsetzung der Initiative.
«Die miese Laune trifft die Ausländer, aber nicht die Reichen», titelt Der Bund zu den Abstimmungsresultaten vom Sonntag.
Die Schweiz, die nun mit Dänemark zu den Ländern mit dem strengsten Ausländerrecht gehöre, mache ihre Verletzlichkeit als Kleinstaat geltend, schreibt der Tages-Anzeiger. Mit dieser verbunden sei der Hang zu einfachen Lösungen und die Hoffnung, auf diesem Weg die einstige, inzwischen verloren geglaubte Idylle zurückzuholen.
«Auch in der Schweiz brechen in schwindelerregendem Tempo in fast allen Lebensbereichen alte Gewissheiten weg. Die Verflechtung mit der Welt ist täglich spürbar, die Migranten sind Ausdruck dieser Realität. In der Unübersichtlichkeit wächst der Wunsch nach klaren Regeln und Ordnung», so Der Bund.
Nach Ansicht des Bund funktioniert im Alltag das Zusammenleben mit Ausländern «unter dem Strich zwar recht gut, doch das spielt keine Rolle»: Das Ja zur «automatischen» Ausschaffung krimineller Ausländer passt zu einem Land, das sich seiner Identität nicht mehr sicher ist.
Von dieser Verunsicherung spricht auch die italienische Tageszeitung La Regione: «Die Bürger haben Angst. Sie fürchten sich nicht nur von Kriminellen, sondern auch vor der Zukunft und den Gefahren einer sich verändernden Welt, mit der sich die Stellung der Schweiz verändert.»
Es wird an Verhälnismässigkeit appelliert
Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) spricht von den «Mühen eines Einwanderungslands». Für die NZZ geht es um «ein grundlegendes Manko der Ausländerpolitik». Seit der «Schwarzenbach-Initiative» sei es diesbezüglich in erster Linie um die ausländischen Arbeitskräfte gegangen, auf die die Schweiz angewiesen sei. Dabei sei vernachlässigt worden, was über den wirtschaftlichen Nutzen von Ausländern hinausgehe.
«Dass Migration zu einem grossen Teil irreversibel ist, wurde lange verdrängt; und dass Ausländer trotz fehlendem Bürgerrecht Ansprüche und Grundrechte haben, ist eine Auffassung, die sich auch in der Gesetzgebung erst allmählich durchgesetzt hat», so die NZZ. «Umso schwieriger war es, mit abstrakten Prinzipien wie der ‹Verhältnismässigkeit staatlichen Handelns› gegen die Schwarz-Weiss-Logik der Schäfchenplakate anzukämpfen.»
An die Verhältnismässigkeit appelliert auch Der Blick: «Wir sprechen von 500 bis 1500 kriminellen Ausländern, die jährlich ausgewiesen werden sollen. Bald zwei Millionen Ausländer leben friedlich hier und tragen zu unserem Wohlstand bei.»
«Populismus schlägt die Vernunft bewusstlos»
Die Ängste der Bevölkerung vor den Folgen der Migration seien zwar legitim, sie würden aber von der SVP ausgenutzt, schreibt Le Temps. Für die anderen Parteien werde es unmöglich, da entgegenzuhalten: «Der Populismus schlägt die Vernunft bewusstlos».
«Die SVP schreitet voran, weil sie auf keinerlei Widerstand stösst», schreibt die Tribune de Genève. «Sie erkennt als erste ein Unwohlsein in der Bevölkerung und ist als erste mit einer Lösung zur Stelle». Die Gegenseite handle bloss reaktiv und ohne Strategie.
Die Analyse des Bundes: «Die politische Grosswetterlage spielt den Nationalkonservativen in die Hände; der Linken bläst ein kalter Wind ins Gesicht.»
Wie Initiative umsetzen?
Ein grosses Fragezeichen bleibt die Umsetzung der Ausschaffungsinitiative: Für die NZZ ist der Entscheid des Volks denn auch «mehr als eine Geste», denn er setze Verfassungsrecht. «Dessen Umsetzung ist voller sachlichem wie politischem Konfliktpotenzial», so die NZZ.
Wie der Initiativtext praktisch umsetzbar ist, schein dem Ja-Lager egal, schreibt der Tages-Anzeiger. Angesichts der internationalen Verpflichtungen der Schweiz bleibe vieles unklar.
Laut der NZZ wird nun die Diskussion über eine Begrenzung des Initiativrechts neue Nahrung erhalten. «Dass sich der demokratische Souverän diese Frage nicht durch selbstverantwortliche Rücksichtnahme auf die Rechtsstaatlichkeit erspart hat, ist einer der Gründe, den Entscheid als ein schlechtes Zeichen für den Zustand der Schweiz zu verstehen», schreibt die NZZ.
Für den Bund ist klar: Will die Schweiz «an der grosszügigen Bewilligungspraxis für Initiativen festhalten, damit das Stimmvolk wenn immer möglich Stellung nehmen kann, braucht es Spielräume bei der Umsetzung». Ansonsten müsste man laut dem Bund «rechtlich heikle Fälle wie die Ausschaffungsinitiative frühzeitig stoppen.»
Nach Ansicht des Tages-Anzeigers ist die automatische Ausschaffung von verurteilten ausländischen Straftätern für die realen Probleme «die vermeintlich einfachste und billigste Lösung», so die Zeitung. «Doch in Tat und Wahrheit kostet sie uns mehr als wir denken: Das Bild eines weltoffenen, toleranten und international engagierten Landes, wie es die Schweiz in gelasseneren Zeiten gerne pflegt und wie es das IKRK, der Genfer UNO-Sitz und der Schweizer UNO-Vorsitz spiegeln, hat einen weiteren Riss bekommen.»
Klares Nein zur Steuergerechtigkeitsinitiative
«Das klare Nein zu Mindeststeuersätzen für Gutbetuchte verblüfft nach all dem Ärger über ‹Abzocker› und Innerschweizer ‹Steuerexzesse'», schreibt Der Bund. Vielleicht profitiere die Steuerautonomie davon, dass in einer Zeit, in der sich so vieles verändert, manche nicht auch noch einen traditionellen Pfeiler des Föderalismus ansägen wollen. Doch für die Zeitung ist klar: «Der Steuerwettbewerb lässt sich nicht einfach frivol weitertreiben.»
Die NZZ stellt dem Souverän hingegen ein gutes Zeugnis dafür aus, dass die «auf Missgunst und Neid ausgerichtete Kampagne» der Linken nicht verfangen habe.
Mit «irritierend» und «knallhart» beschreiben deutsche und österreichische Zeitungskommentatoren die Annahme der Ausschaffungsinitiative in der Schweiz. Sie setzen auf den Europäischen Gerichtshof und die EU, um darauf zu reagieren.
«Das Signal der Schweizer ruft nach einer Antwort», heisst es etwa im Kommentar der «Süddeutschen Zeitung». Denn die Schweizer glaubten, sich «leichten Herzens über Abkommen mit der EU und internationale Konventionen hinwegsetzen zu können».
Die Europäische Gemeinschaft sei auch eine Gemeinschaft des Rechts. «Sie sollte nicht hinnehmen, dass ein Land, dem sie eng verbunden ist, sich so mutwillig ausserhalb dieser Gemeinschaft stellt.»
«Bleibt zu hoffen, dass der Europäische Gerichtshof die praktische Anwendung der neuen Bestimmungen verhindert», schreibt die Berliner «tageszeitung».
Die «Märkische Oderzeitung» aus Frankfurt glaubt ebenfalls, dass «Helvetia wohl künftig oft ein Fall für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg» sein wird. Dass das der UNO- Standort Schweiz, der für sich die Geltung der Menschenrechte in Anspruch nimmt, billigend in Kauf nehme, «irritiert».
Von einer «fraglichen Mentalität» und einer «gewissen Schizophrenie» ist in der Wiener Zeitung «Die Presse» die Rede. Auf der einen Seite sollten ausländische Mörder, Räuber und Dealer aus der Schweiz geworfen werden.
Anderseits «wurden und werden» Diktatoren, Mafiosi und Geschäftemacher, «deren Geld oft fragwürdiger Herkunft ist, mit einem «Grüezi» aufgenommen».
In der österreichischen Tageszeitung «Der Standard» bezeichnet es die Kommentatorin als beunruhigend, «dass nach dem Minarettverbot in der Schweiz jetzt schon zum zweiten Mal offen Ausländerfeindliches in Recht und Gesetz eingeht»: «Könnte sein, dass hier direkte Demokratie am Fremdenhass scheitert.»
Nun hätten die Schweizer Regierung und das Parlament die Aufgabe, die Initiative umzusetzen, sagte Michael Reiterer, EU-Botschafter in der Schweiz, am Sonntag auf Anfrage der Nachrichtenagentur SDA. Dabei müssten zwei Verpflichtungen, jene gegenüber der Initiative und jene gegenüber den Abmachungen mit der Europäischen Union, in Einklang gebracht werden.
Damit spielt Reiterer auf die Personenfreizügigkeit an. Nach den EU-Vorgaben reicht ein Strafbestand alleine nicht aus, einen EU- Bürger oder eine EU-Bürgerin auszuschaffen. Die betroffene Person muss eine Bedrohung für die öffentliche Sicherheit des Landes darstellen. Zudem muss jeder Fall einzeln behandelt werden.
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