«Bei manchen entwickelt sich ein Rachegefühl»
Osama bin Laden ist tot. Um die Welt vom islamistischen Terrorismus ganz zu befreien, brauche es aber noch viel mehr, meint Islamexperte Prof. Reinhard Schulze im Gespräch mit swissinfo.ch.
Was heute unter islamistischem Terrorismus verstanden werde, sei aus einer Vielzahl von unterschiedlichen Gründen entstanden, sagt Reinhard Schulze von der Universität Bern. Es gebe keine Handlungsstrategie, die den ganzen Terrorismus eliminieren könne. «Denken Sie nur an die grossen Unterschiede zwischen den Situationen in Jemen und Grossbritannien», so der Islamexperte.
swissinfo.ch: Braucht es für den Westen und die islamischen Länder unterschiedliche Strategien?
Reinhard Schulze: Nicht nur dort. Schon Ägypten und Jemen lassen sich nicht mehr miteinander vergleichen. Es hängt davon ab, in welchem sozialen Kontext der Terrorismus gepflegt wird.
In Umgebungen, wo eine starke zivilgesellschaftliche Struktur entstanden ist, wie in Ägypten, Tunesien oder Marokko, muss eine andere Bekämpfungsstrategie aufgebaut werden als in Jemen, wo es diese Strukturen viel weniger gibt.
swissinfo.ch: In welche Richtung müsste es denn in Jemen gehen?
R. S.: In Jemen haben sich terroristische Verbände in einer kleinen Gegend eine Art Nische geschaffen. Sie funktionieren dort als eine Art Solidaritätsnetzwerk für die lokale Bevölkerung.
Deshalb müsste der Staat Aufgaben wie die Versorgung der lokalen Bevölkerung übernehmen oder Arbeitslosigkeit bekämpfen. Wegen dieser Aktivitäten haben die Kaida-Gruppen in Jemen so etwas wie Akzeptanz gefunden. Dieses Muster gilt auch für die Hamas im palästinensischen Gazastreifen.
swissinfo.ch: Marokko ist imj Vergleich zu Jemen und Palästina fast ein wohlhabendes und freies Land. Es fällt auf, dass viele im Westen tätige Terroristen marokkanische Wurzeln haben. Weshalb?
R. S.: In Marokko fallen zwei verschiedene Traditionen zusammen. Zum einen haben wir dort die Slums in der Vorstadt von Casablanca, wo sich ein soziales Milieu herausgebildet hat von Leuten, die von der Gesellschaft abgekoppelt erscheinen. Das ist nicht ganz unähnlich der Situation in den Banlieus von Paris oder anderen französischen Städten.
Weiter gibt es noch die islamistischen Kampfgruppen-Verbände, die von Mauretanien, Algerien oder Mali nach Marokko kommen.
swissinfo.ch: Al-Kaida übt aber auch auf einige junge Muslime in entwickelten Ländern eine gewisse Faszination aus.
R. S.: Vor allem im Westen, aber auch in Teilen der arabischen Welt bildet ein diffuses Ressentiment oftmals den Ausgangspunkt für eine Akzeptanz der Kaida-Idee. Dieses «Gegengefühl» kann zum Beispiel auftreten, wenn sich jemand als Muslim ausgegrenzt fühlt. Bei manchen entwickelt sich ein Rachegefühl.
Es gibt zum Beispiel in Grossbritannien und Frankreich Leute, die wie Rattenfänger versuchen, junge Muslime mit einem solchen Rachebedürfnis aufzuspüren und ihnen Erklärungshilfen für ihr Ressentiment anzubieten. Ihnen wird dann erklärt, dass ihr Rachegefühl berechtigt und gegen den Westen zu richten sei, da dieser der eigentliche Feind sei.
swissinfo.ch: Es heisst auch, eine Demokratie nach westlichem Vorbild sei in islamischen Ländern gar nicht umsetzbar, weil der Islam nicht reformierbar sei.
R. S.: Das sind alte Vorurteile aus dem 19. Jahrhundert. Sie haben mit der heutigen Sachlage überhaupt nichts zu tun. Die Revolten in der arabischen Welt zeigen ja sehr deutlich, dass gerade die Bevölkerung zwischen 15 und 35 Jahren, welche die grosse Mehrheit dieser Gesellschaften bilden, eindeutig den Willen bekundet, in einer pluralen Gesellschaft leben zu wollen.
Sie wollen ihre Zukunft selbst gestalten, wollen nicht mehr abhängig sein von staatlichen oder religiösen Vorgaben. Das ist ein fundamentaler Emanzipationsprozess.
swissinfo.ch: Diese Prozesse sind aber noch nicht abgeschlossen. Über den Erfolg kann man jetzt noch nichts sagen…
R. S.: Klar. Aber die Religion ist nicht der primäre Hindernisfaktor für die Durchsetzung solcher Forderungen. Es dürften vielmehr die alten Systeme sein, die staatlichen Ordnungen, die Privilegien, die sich bestimmte Teile der dortigen Gesellschaften über die letzten Jahrzehnte angeeignet haben.
Die Macht der alten Regimes ist aber bisweilen noch so gross, dass sich dieser Emanzipationswille nicht so schnell durchsetzt, wie man in Syrien sieht.
Erfolg ist also nicht garantiert. Aber der zum Ausdruck gebrachte Wille und der Optimismus, der in diesen Revolten steckt, zeigen sehr deutlich, dass der grosse Teil der Bevölkerung sich vollkommen mit dem identifiziert, was wir als westliche Werte bezeichnen würden. Für sie gelten Religionsfreiheit, Gewissensfreiheit, Redefreiheit.
swissinfo.ch: Was ist, wenn die Bedürfnisse der Bevölkerungen nicht befriedigt werden, wenn die Menschen in ein paar Jahren keine Arbeit haben, sich nicht ernähren können, keine Perspektiven haben?
R. S.: Wenn der jetzt stattfindende Prozess ergebnislos endet, könnten radikale Gruppen der Jugend vorhalten: Das habt ihr nun davon, wenn ihr euch wie der Westen verhalten wollt. Eine logische Folgerung wäre dann die Forderung: Zurück zu den eigenen Wurzeln!
Aber die Menschen wissen, dass die Nutzung des Islam als gesellschaftliches Ordnungsmodell auch nicht zur Befriedigung der sozialen Bedürfnisse beigetragen hat.
Arbeitslosigkeit wird auch durch eine islamische Ordnung nicht behoben, Privilegien werden nicht abgeschafft, und wirkliche soziale Veränderungen gibt es auch keine.
swissinfo.ch: Aber der Westen unterstützt strenge islamische Regimes wie etwa Saudi-Arabien…
R. S.: Das ist genau die Malaise. Der Westen schaut primär erst auf die Kategorien Sicherheit, Stabilität und Versorgungssicherheit mit Erdöl und anderen Rohstoffen. Das bedeutet, dass er dann jene Regimes unterstützt, die genau das Gegenteil von dem vertreten, was er als Freiheitswerte vertritt. Dafür ist Saudi-Arabien ein schönes Beispiel.
1953 geboren.
Studium Islamwissenschaft, Semistik, Linguist, Romanistik
1982 bis 84: Mitarbeiter am Seminar für Geschichte und Kultur des Vorderen Orients, Hamburg;
1987 Habilitation
1987-92: Professor für Orientalische Philologie, Ruhr-Universität Bochum
1992-95: Professor für Islamwissenschaft und Arabistik, Universität Bamberg
Seit 1995: Ordentlicher Professor für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie, Universität Bern.
1998-2001: Planungschef der philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern.
2001-03: Vizedekan,
2003-07: Dekan der Philosophisch-historischen Fakultät, Universität Bern.
Forschungsschwerpunkte: Islamische Kultur- und Wissensgeschichte; Islamische Religionsgeschichte. Sozial- und Kulturgeschichte der Neuzeit und Moderne in der islamischen Welt; zeitgenössische islamische politische Kulturen.Orientalismus und die Geschichte der Islamwissenschaft.
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