Biodiversitätsinitiative: Das Streitgespräch
Die Biodiversitätsinitiative will den Schutz von Lebensräumen in die Verfassung schreiben. Was spricht dafür? Was dagegen? Unsere Debatte zur Abstimmungsvorlage vom 22. September.
Die Biodiversitätsinitiative nimmt ein Thema auf, das Fachleute beschäftigt: 56’000 Tier- und Pflanzenarten kommen in der Schweiz vor. Doch diese Vielfalt der Arten schwindet. Ein Drittel davon ist laut Bundesamt für UmweltExterner Link bereits verloren gegangen oder vom Aussterben bedroht.
Über die Biodiversitätsinitiative debattieren bei Let’s Talk die Nationalrätinnen Vroni ThalmannExterner Link von der SVP und Melanie MettlerExterner Link von den Grünliberalen. Thalmann ist Bäuerin, aufgewachsen auf einem Berg-Bauernhof. Sie argumentiert gegen die Biodiversitätsinitiative.
Melanie Mettler kandidiert gerade als Stadtpräsidentin von Bern und vertritt damit die urbane Schweiz. Sie befürwortet die Biodiversitätsinitiative.
«Schweizer Bauern sind privilegiert»
Auch der Auslandschweizer Noel Schweizer bringt seine Perspektive ein, er ist Agrar-Unternehmer in Brasilien. Die Betriebe seiner Familie stellen im Moment auf regenerative Landwirtschaft um – im Interesse der Artenvielfalt und der langfristigen Perspektive. Wie sieht dieser Grossfarmer die Landwirtschaft in der Schweiz?
«Die Schweiz ist in einer privilegierten Position, weil der Schweizer Bauer Unterstützung vom Staat und der Bevölkerung erhält», sagt Noel Schweizer. «Es gibt Direktzahlungen, die eine ökologischere Landwirtschaft fördern.»
Mehr
Die Top-Geschichten der Woche abonnieren
In Brasilien oder im Corn Belt der USA, wo grossflächig spezialisiert auf wenige Kulturen bewirtschaftet werde, stehe man dagegegen vor grossen Herausforderungen, sagt er. Diese beträfen nicht nur die Bauern, sondern auch alle Abnehmer, dazu die Industrie und die Agrarpolitik des Landes.
«Das bringt die Schweizer Bauern in eine weltweit einzigartige Situation: Dass sie wirklich kreieren können», sagt Noel Schweizer. Denn sie hätten eine Auswahl an Instrumenten für einen ökologischen Wandel. «So kann man eine neue Landwirtschaft erfinden, oder diese verbessern.»
«Es geht auch ohne Biodiversitätsinitiative»
Vroni Thalmann unterstreicht, dass auch sie als Gegnerin der BiodiversitätsinitiativeExterner Link die Natur und die Landschaft schützen will. «Gerade im Berggebiet muss man die Landschaft pflegen. Aber das machen wir auch ohne diese Biodiversitätsinitiative», sagt sie.
Ziel der Landwirte sei, dass man die Produktion regional und saisonal aufrechterhalten könne.
Doch was im Berggebiet gilt, muss nicht unbedingt für die Talgebiete gelten. «Klar ist dort die Produktion grösser», sagt Vroni Thalmann, «das Talgebiet muss produzieren. Es muss auch dort eine Vielfalt bleiben, aber sicher nicht auf der Ackerfläche, auf der nachher weniger Kartoffeln oder Gemüse gemacht werden können», sagt sie.
«Die Biodiversitätsinitiative gibt einen Impuls»
«Sie leben in einem Biodiversitäts-Hotspot der Schweiz», entgegnet Melanie Mettler. «Die InitiativeExterner Link will das auch den anderen Gebieten ermöglichen.» Denn was die Schweiz bisher gemacht habe, reiche nicht, um die Lebensgrundlagen zu erhalten.
«Das betrifft einerseits die grösseren Bauern im Mittelland, aber auch die Siedlungsgebiete, also auch die Städte», sagt Mettler.
Weil so ein Wandel nicht von allein komme, brauche es den Handlungsimpuls der Initiative. Die Biodiversitätsinitiative wolle, dass die Kantone und Gemeinden diesen Impuls und Ressourcen bekommen.
«Wenn wir feststellen, dass die Böden Leben verlieren, dass die Bäume nicht mehr bestäubt werden, dann haben wir auch nichts mehr davon, wenn wir ganz viel Ackerfläche haben», fügt Melanie Mettler an.
Für Vroni Thalmann kommt es aber vielmehr auf die Summe aller Massnahmen an. «Man darf nicht nur einen Betrieb anschauen. Man muss eine Region anschauen.» Sie verweist auf die Biosphäre Entlebuch, wo sie Landwirtschaft betreibt, und sagt: «Das ist gelebt. Ohne dass man immer noch mehr und mehr und mehr will.»
Derzeit zählt die Schweiz 174’000 Hektaren, die zur Förderung der Biodiversität beitragen. Das entspricht der Fläche des Kantons Zürich.
Die Gegner:innen der Initiative sagen, es geschehe bereits genug. Viele ärgern sich. «Diesen Ärger verstehe ich», sagt Melanie Mettler. «Man hat den Bauern immer wieder neue Rahmenbedingungen gesetzt.»
Für Bäuerin Vroni Thalmann reden der Landwirtschaft aber grundsätzlich zu viele Leute rein. «Das verleidet einem». Immer wieder führe man etwas ein, und gleich darauf werde schon geschaut, wie es funktioniere. «Wieso kann man nicht einmal auch in der Stadt schauen, dass dort etwas gemacht wird?», fragt sie.
Biodiversitätsinitiative: «Die Selbstversorgung könnte kippen»
Vroni Thalmann verweist auch auf den Krieg in Europa. «Man weiss, dass die Selbstversorgung kippen könnte.» Plötzlich müsse man importieren und im schlimmsten Fall komme auf einmal nichts mehr rein. «Das können wir uns nicht leisten.»
Noel Schweizers Familie bewirtschaftet in Brasilien Ländereien auf einer Fläche grösser als der Bodensee: 190’000 Hektaren Land, das ist ein Fünftel der Fläche, die der Schweizer Landwirtschaft zur Verfügung steht.
Seit acht Jahren stellt diese Familie um, von grossflächigem Anbau auf die sogenannt regenerative Landwirtschaft. Diese stellt die Biodiversität ins Zentrum sowie einen gesunden, lebendigen Boden. Hier erzählt der Agrar-Unternehmer von dieser Umstellung:
Auf die Frage, ob nicht das Direktzahlungssystem als Anreiz genüge, sagt Mettler: «Wir haben mit dem Direktzahlungssystem ein sehr gutes politisches Steuerungsmittel. Aber wir haben es nicht optimal genutzt, wir waren zu wenig vorausschauend.» Man habe zu wenig darauf geachtet, dass die Bauern auch in Zukunft gut arbeiten könnten.
Wächst der Stadt-Land-Graben?
Die Biodiversitätsinitiative wird in der Schweiz entlang einem bereits bestehenden Graben zwischen Stadt und Land diskutiert.
Melanie Mettler glaubt aber nicht, dass in der Schweiz die Städte in ökologischen Fragen den Takt angeben. «Die Bevölkerung aus kleinen Kantonen hat zum Teil eine dutzendfach stärkere Stimmgewichtung», sagt Mettler auch.
Vroni Thalmann hingegen sagt, die Landbevölkerung fühle sich unter Druck. «Man könnte besser mit uns reden ohne diese Guillotine», sagt sie.
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch