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Das Ende des «tunesischen Wirtschaftswunders»

Gewaltsame Eskalation zwischen Polizisten und Demonstranten in Tunesien. AFP

Wirtschaftswachstum gegen die Einschränkung der Freiheitsrechte: Dieser informelle Pakt zwischen Präsident Ben Ali und dem Volk sei mit den Protesten in Tunesien am Ende, sagt der Genfer Maghreb-Kenner Hasni Abidi.

Bei neuen blutigen Unruhen in Tunesien wurden am Montag mehr als zehn Menschen getötet. Nach Augenzeugenberichten eröffneten Polizisten in der Stadt Kasserine im Westen des Landes das Feuer auf Demonstranten und schossen ziellos in die Menge. 

Bei den sozialen Protesten in Tunesien, die Mitte Dezember ausgebrochen waren, sind nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen bisher über 30 Menschen ums Leben gekommen.

Am Dienstag haben die Behörden landesweit alle Schulen und Universitäten geschlossen. Die Regierung will damit verhindern, dass sich an den Schulen und Unis weitere soziale Proteste formieren.

swissinfo.ch sprach mit Hasni Abidi, dem Direktor des Forschungszentrums über den arabischen und mediterranen Raum in Genf, über die sozialen Proteste in Tunesien.

swissinfo.ch: Wie ordnen Sie die aktuelle Protestbewegung ein?

Hasni Abidi: Eine Protestbewegung in diesem Ausmass hat es in der modernen Geschichte Tunesiens bisher nicht gegeben. Die Regierung hatte grosse Angst, dass die Demonstrationen auf die Schüler und Studenten übergreifen. Das ist nun auch eingetroffen.

Man kann heute von einer Spirale von Demonstrationen und Aufständen sprechen, die von Sidi Bouzid, wo sie ausgebrochen sind, auf andere Städte und Bevölkerungsschichten übergriffen haben.

swissinfo.ch: Widerspiegeln die Proteste den Frust in der breiten Bevölkerung?

H.A.: Der junge Arbeitslose, der sich in Sidi Bouzid selbst angezündet hatte, steht symbolisch für die allgemeine Unzufriedenheit im Land. Die protestierenden jungen Menschen zeigen der Regierung und der Bevölkerung, dass das Regime von Präsident Ben Ali, das lange Zeit als stabil und sicher bezeichnet wurde, nicht unbesiegbar ist. Mit blossen Händen schlagen die Demonstranten eine Bresche in den Polizeiapparat des Regimes, der als erbarmungslos gilt.

Die Tunesier haben keine Angst mehr vor dem Polizeiregime. Doch es bleibt noch eine Unbekannte, und das ist Tunis: Gehen die Einwohner der Hauptstadt in Massen auf die Strasse, wird das Regime äusserst ernsthaft in Frage gestellt.

swissinfo.ch: Jegliche Form von organisierter Opposition wurde bisher von der Regierung im Keim erstickt. Wie könnte aus den momentanen Protesten eine längerfristig organisierte Bewegung werden?

H. A.: Das Regime hat Medien und Politik einen Riegel vorgeschoben. Das tunesische Parlament wurde zu einem Parlament ohne Macht. Das Regime hat die Meinungsfreiheit beschränkt und die Tunesier zum Schweigen gezwungen.

Die neuesten Proteste basieren weder auf einem politischen Programm noch werden sie von eigentlichen Leadern angeführt. Das wird für die Regierung insofern zu einer Gefahr, als dass die Bewegung ihr keinen Ansprechpartner bietet.

Das alternde Regime, in dem es bis in den Clan von Ben Ali hinein Spannungen gibt, ist daran, den Rückhalt in der tunesischen Gesellschaft zu verlieren. Es kann sich nicht mehr mit blossen kosmetischen Veränderungen begnügen.

swissinfo.ch: Das tunesische Regime hat lange den wirtschaftlichen Aufschwung propagiert, um von der Beschränkung der Freiheitsrechte abzulenken. Ist damit nun Schluss?

H.A.: Die Protestbewegung bedeutet in der Tat das Ende des «tunesischen Wirtschaftswunders», das vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und zahlreichen Präsidenten in Europa lange als Musterbeispiel aufgeführt wurde. Die Proteste und der in der Bevölkerung verbreitete Frust zeugen indes davon, dass in Tunesien nur eine Minderheit an der Macht vom Wirtschaftswachstum profitiert.

Die wirtschaftlichen und sozialen Rechte sind im Land mit den politischen Rechten verknüpft. In den Protesten wurde denn auch immer wieder mehr Freiheit, Demokratie und Transparenz gefordert.

swissinfo.ch: Welche unmittelbaren Folgen haben die Proteste?

H.A.: Es hängt alles davon ab, wie die Regierung darauf reagiert und welche Ausmasse die Proteste insbesondere in Tunis annehmen. Weiter kommt es darauf an, ob Präsident Ben Ali die Kandidatur für eine neue Präsidentschaft 2013 trotz seines hohen Alters und seinem Gesundheitszustand aufrechterhält.

Die Protestbewegung trägt dazu bei, dass die Differenzen im Innern der Macht zunehmen. Es ist auch möglich, dass gewisse Gruppierungen des Regimes die Unruhen nutzen, um Rivalen auzubooten.

Indem Präsident Zine el-Abidine Ben Ali die Proteste als unverzeihliche
terroristische Akte verurteilt, greift er auf ein bei den Regimes in dieser Region verbreitetes Ablenkungsmanöver zurück.

In einer Rede hatte Präsident Zine el-Abidine Ben Ali am Montag 300’000 neue Arbeitsplätze bis Ende 2012 versprochen.

Gleichzeitig verurteilte er die gewaltsamen Proteste als «unverzeihliche terroristische Akte».

UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon rief auch am Montag die Konfliktparteien im nordafrikanischen Land zur Zurückhaltung und zu einer Konfliktlösung im Dialog auf.

Ban habe sich «beunruhigt über die gewaltsame Eskalation der Auseinandersetzungen» zwischen Ordnungskräften und Demonstranten gezeigt, sagte Moons Sprecher in New York.

Neben dem Aufruf zum Dialog betone Ban die «Bedeutung einer allumfassenden Achtung der Redefreiheit».

(Übertragung aus dem Französischen: Corinne Buchser)

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