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Das Ja der Angst

Das Ja zum Minarettverbot beherrscht die Frontseiten der Presse. swissinfo.ch

Die Annahme der Minarettverbots-Initiative ist das Thema in den Schweizer Medien. Als Erklärung für das Abstimmungsergebnis wird das Frauenbild sowie der militante Islam herbeigezogen, auch die allgemeine Befindlichkeit wird reflektiert.

«Die vom den Initianten geschürten Abwehrreflexe haben beim Souverän gespielt», schreibt der Kommentator der Neuen Zürcher Zeitung. Der Stimmbürger wollte der Multikulturalität Schranken setzen. Obwohl der Weltmeistertitel der multikulturellen U-17 Fussballmannschaft Jubelstürme hervorgerufen hätten, «an der Urne hat das Schweizervolk aber nicht nachgezogen.» Das in der muslimischen Welt praktizierte Frauenbild und der real existierende Fanatismus hätten zu diesem Entscheid beigetragen.

Zwischen der Vorlage über das Minarettverbot und derjenigen über die Kriegsmaterialausfuhr sieht die NZZ Parallelen: Am vergangenen Abstimmungswochenende sei es um Isolationismus sowohl von links als auch von rechts gegangen, auch die «Armeeabschaffer möchten mit der arabischen Welt nichts zu tun haben, wenn es Kriegsmaterial geht».

Die beiden Weichenstellungen seien aussenpolitisch relevant. «Die Schweiz ist im Jahr 2009 zwischen mächtige Mühlsteine geraten», einerseits bei den Steuerstreitigkeiten mit den Nachbarstaaten, andereseits beim lybischen Herrscher. Nötig waren nun Regierungsparteien, die sich wenigstens in den Grundzügen darauf einigen könnten, welche Interessen die Regierung im Ausland zu vertreten hat, so die NZZ.

«Genf rettet die Ehre»

Die Tribune de Genève fragt sich, wie Genf, internationale Stadt, der europäische Sitz der Uno dieses Abstimmungsresultat erklären wird. In Genf leben bis zu 40 Prozent Ausländerinnen und Auslander, sind sie immer noch willkommen? Die ganze Welt frage nach den Motiven der Schweizerinnen und Schweizer. Der Titel «Das Ja der Angst» zeigt die Einschätzung der Tribune de Genève. In Genf, einem der Kantone, die die Initiative abgelehnt habe, schäme man sich.

«Internationale Isolation wird verstärkt»

«Das Ja zum Minarettverbot in der Schweiz ist von grosser Tragweite», meint der Kommentator des Zürcher Tages-Anzeigers. Nicht, weil nun der Fehdehandschuh gegen die muslimische Minderheit in diesem Land geworfen wäre. Ihre Religion könnten die Muslime nach wie vor ausleben. Es gehe nur um die architektonische Umsetzung der Kultstätte. Von grosser Tragweite sei das Abstimmungsergebnis deshalb, weil es den Graben zwischen einer modernen, weltoffenen, internationalistischen Vision der Schweiz und einer traditionellen, nationalistischen Vision zeige.

«Doch das Minarettverbot wird kein einziges Problem klären», ist der Tages-Anzeiger überzeugt. Im Gegenteil: «Es wird die internationale Isolation der Schweiz selbst in westlichen Ländern verstärken, da weder die EU noch die USA die Kultusfreiheit einer Religion derart einschränken.»

«Die Arroganz eines muslimischen Tyrannen wie Gaddafi»

Zu den unterschwelligen Gefühlen, den Ängsten gegenüber dem islamischen Fundamentalismus sei in den letzten Monaten für die Schweizer noch die Arroganz eines muslimischen Tyrannen wie Gaddafi hinzu gekommen, hält der Corriere del Ticino in seiner Suche nach einer Erklärung für das Abstimmungsergebnis fest.

Dieser halte zwei Schweizer als Geiseln zurück und habe verlangt, die Schweiz von der Weltkarte zu tilgen. In diesem Sinn hätten die Schweizerinnen mit Wut und Stolz reagiert. Doch dies könnte sie Schweiz teuer zu stehen kommen.

«Der Keulenschlag»

Man dürfe nun den Mut nicht verlieren, die Schweizer hätten über Minarette abgestimmt, nicht über Moscheen. «Es sind nicht alle Stimmbürger gegen den Islam, aber gegen das, was sie als übermässige Vertretung des Islams in der Öffentlichkeit empfunden haben», kommentiert die Westschweizer Zeitung Le Temps unter dem Titel «der Keulenschlag».

Obwohl sie so stolz auf ihre Multikulturalität sei, habe die Schweiz am Sonntag eine Minderheits-Religion diskriminiert. «Sie riskiert, dass ihre Glaubwürdigkeit zu einem Lippenbekenntnis mit symbolischen Pforten, aber eigentlich unberechenbar wird.»

«Heftige Ohrfeige für den Bundesrat»

«Schweiz knickt Minarette», titelt das Boulevardblatt Blick. Mit dieser Wucht habe kaum jemand gerechnet, kommentiert der Politik-Chef, denn die Nein-Koalition sei gross gewesen. Die Gegner der Initiative «haben unterschätzt, wie bedrohlich eine Mehrheit den Islam einschätzt», heisst es weiter.

Ihm fällt auf, dass gerade Kantone wie Genf und Basel, die «mit islamischen Parallelgesellschaften» tatsächlich konfrontiert sind, die Initiative abgelehnt haben.

Der Kanton Appenzell Innerrhoden, wo «gerade mal» 500 Muslime leben, habe sie jedoch angenommen. Es sei nicht in erster Linie darum gegangen, ob nun eine Moschee ein Türmchen haben dürfe oder nicht.

Den Initianten sei es gelungen, die Diskussion über das Baurechtliche hinaus auszuweiten, nämlich auf die Scharia, die Unterdrückung der Frau, die Genitalverstümmelungen und auf Zwangsehen.

«Welches Mass an Integration verlangen die westlichen Demokratien?», fragt der Kommentator und hält fest, dass sich erst noch zeigen müsse, wie sich die gestern siegreiche Koalition verhalten werde: «Die Evangelikalen etwa, deren ‹in Stunden› gepredigtes Weltbild genauso wenig aufgeklärt ist wie das SVP-Frauenbild emanzipiert.»

Ein Imageproblem

Die Schweiz habe ein Imageproblem, findet das welsche Boulevardblatt 24 heures. Eine Bombe sei geplatzt. Die Konsequenzen seien riesig, vor allem für das Image der Schweiz.

Exportindustrie, Tourismus, Luxusindustrie, Finanzplatz seien die Sektoren, die ihren Nimbus verloren hätten. Der Bundesrat sei genauso wie die traditionellen Parteien im Abstimmungskampf schüchtern geblieben. Nun müssten sie einen entschlossenen Willen zur Kenntnis nehmen. «Die Regierung und die meisten gewählten Personen in diesem Land haben gestern eine heftige Ohrfeige bekommen».

Identitätskrise

Dass es nicht nur um die Minarette gegangen sei, zu diesem Schluss kommt auch La Regione Ticino . Das Ergebnis drücke Verunsicherung und Angst aus.

«Man kann daraus die Identitätskrise ablesen, in der sich die Schweizerinnen und Schweizer befinden, eine Identität, die in den letzten Monaten einer Zerreissprobe ausgesetzt wurde».

Eveline Kobler, swissinfo.ch

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