Das Rote Kreuz, «ein Menschheitsideal»
Die Verantwortlichen der Folterungen in Guantanamo sollten vor Gericht gestellt werden: Diese Meinung vertritt die Schweizer Aussenministerin Micheline Calmy-Rey im swissinfo-Interview zum 150-Jahre-Jubiläum der Rotkreuz-Bewegung.
swissinfo: Was bedeutet Ihnen persönlich die Rotkreuz-Bewegung?
Micheline Calmy-Rey: Sie stellt für mich ein Ideal der Menschheit dar. Sie ist ein Synonym für das Handeln zugunsten der Opfer und der Zivilbevölkerung.
Henry Dunant und das Rote Kreuz sind sehr starke Symbole, die überall anerkannt werden. Die Rotkreuz-Bewegung setzt vor allem ein Zeichen der Solidarität mit all denen, die ihren Schutz und Hilfe brauchen.
swissinfo: Wieweit sind die Ideale des Roten Kreuzes ein Instrument der schweizerischen Aussenpolitik?
M.C.-R.: Das IKRK ist eine neutrale und unabhänige Organisation. Durch ihre lange humanitäre Tradition teilt die Schweiz die gleichen Werte wie das IKRK. Unser Land ist einer seiner wichtigsten Gönner. Überdies ist die Schweiz seit 60 Jahren Depositarstaat der Genfer Konventionen.
swissinfo: Depositarstaat – was bedeutet das konkret?
M.C.-R.: Die Schweiz nimmt die Rolle einer Treuhänderin wahr, indem sie auf die Einhaltung der Konventionen achtet, Konferenzen einberuft und sich dafür einsetzt, dass das humanitäre Völkerrecht in Konfliktsituationen respektiert wird.
Wir haben dieselben Verpflichtungen wie alle andern Staaten, welche die Konventionen unterzeichnet haben. Wir fühlen uns aber ein wenig stärker betroffen, weil wir die moralische Rolle des Depositarstaates und damit eine Wächterfunktion übernehmen.
swissinfo: Krieg gegen den Terrorismus, Guantanamo, Gaza-Krieg: In der Vergangenheit sind die Genfer Konventionen regelmässig verletzt worden. Stellen Sie generell eine Zunahme der Verletzungen fest?
M.C.-R.: Die Verletzungen, wie wir sie soeben auch bei beiden Kriegsparteien in Sri Lanka feststellen mussten, stellen die Relevanz der Regeln nicht in Frage. Es gibt allerdings Probleme bei deren Interpretation. Parallel dazu stellt sich auch die Frage der nötigen Präzisierungen der Genfer Konventionen und der Instrumente, die zu deren Umsetzung nötig sind. Eine Diskussion darüber ist nötig. Sie hat erst begonnen.
swissinfo: Die Schweiz war auch an der Schaffung des Roten Kristalls beteiligt. Von aussen betrachtet hat diese Neuerung – etwa im Gaza-Konflikt – nicht grosse Fortschritte gebracht. Teilen Sie diese Einschätzung?
M.C.R.: Immerhin hat es diese Neuerung den israelischen und den palästinensischen Helfern erlaubt, sich der Rot-Kreuz- und Halbmond-Bewegung anzuschliessen. Sie hat auch die Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen der israelischen Hilfsorganisation Magen David Adom und dem Palästinensischen Halbmond verbessert. Deshalb konnten palästinensische Ambulanzen bis nach Ost-Jerusalem fahren. Das ist sicherlich ein Fortschritt.
swissinfo: Als Aussenministerin vertreten Sie auch die wirtschaftlichen Interessen des Landes. Wie bringen Sie die Verteidigung des humanitären Völkerrechts und die wirtschaftlichen Interessen unter einen Hut?
M.C.-R.: Es gibt keinen Widerspruch zwischen diesen beiden Prinzipien. Heute ist man sich bewusst, dass Verletzungen des Völkerrechts, instabile Situationen und Konfliktrisiken Gift sind für die Wirtschaft.
swissinfo: Verstehen die Schweizer Unternehmen diese Botschaft?
M-C.-R.: Sie verstehen sie nicht nur, sie sind sogar sehr interessiert daran. Das Aussendepartement arbeitet im Bereich der Menschenrechte mit Unternehmen zusammen. Die Unternehmen sind sich bewusst, dass stabile politische und juristische Verhältnisse mit diesen Fragen sehr eng verknüpft sind.
swissinfo: Barack Obama hat die Schliessung von Guantanamo angekündigt und die Folter verurteilt. Gleichzeitig will Obama darauf verzichten, die Verantwortlichen der Administration Bush vor Gericht zu bringen. Was halten Sie vom Vorgehen Obamas in dieser Affäre?
M.C.-R.: Wir haben den Entscheid, Guantanamo zu schliessen, begrüsst, denn die Schweiz hat dieses Gefängnis ja regelmässig kritisiert. Für uns war die Ankündigung der Schliessung ein starkes Signal. Es zeigt den Willen der Vereinigten Staaten, das internationale Recht zu respektieren.
Die Frage der Strafverfolgung der Verantwortlichen, die der Folter verdächtigt werden, haben die USA noch nicht definitiv entschieden. Generell sollten jedoch solche Vergehen gegen das internationale Recht genauer untersucht werden. Die Schuldigen sollten sich vor Gericht verantworten müssen.
swissinfo: Sie teilen also die Auffassung nicht, dass Obama zusehends von der Realpolitik eingeholt wird?
M. C.-R.: Die Schweiz hat nie behauptet, die USA würden eine idealistische Aussenpolitik betreiben. Da unterscheiden sich die USA nicht von anderen Ländern, die Schweiz eingeschlossen: Sie vertreten ihre eigenen Interessen.
Was die Schliessung von Guantanamo betrifft, unterstützen wir die Bestrebungen. Wir sind grundsätzlich bereit, einen bis zwei Häftlinge aufzunehmen. Zurzeit ist eine interdepartementale Arbeitsgruppe daran, die Möglichkeiten zu evaluieren und die Akten von betroffenen Personen zu prüfen.
Federico Bragagnini und Andreas Keiser, swissinfo.ch
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) ist eine private Organisation. Dennoch unterhält das IKRK enge Beziehungen zur Schweiz.
Das in Genf beheimatete IKRK ist der Hauptpartner des Schweiz im Bereich der internationalen humanitären Hilfe.
Die Schweiz ist das drittwichtigste Geberland des IKRK, hinter den USA und Grossbritannien.
2008 unterstützte die Schweiz das IKRK mit insgesamt 101,05 Millionen Franken. 2009 werden es 105 Millionen Franken sein.
Präsident des IKRK ist der Schweizer Jakob Kellenberger.
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