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Das «Stimmwunder» am Rheinfall

Auf Urnengänge brauchen die Schaffhauser Behörden nicht mit dem Zeigfinger hinzuweisen. swissinfo.ch

Punkto Beteiligung an Abstimmungen und Wahlen liegt stets derselbe Kanton vorn: Schaffhausen. Als einziger Stand kennt er den Stimmzwang. Das ist aber nicht der einzige Grund.

Die Behörden tun beispielsweise sehr viel, um ihren Bürgern die Teilnahme an den Urnengängen zu erleichtern, etwa mit langen Öffnungszeiten der Stimmlokale.

Von Stimmzwang will die Sekretärin eines Schaffhauser Parteipräsidenten nichts wissen. «Bei uns heisst das Stimmpflicht», klärt sie den anrufenden Journalisten aus der Bundesstadt auf. In dieser Pflicht sind am vergangenen Abstimmungs-Sonntag genau 48’495 Schaffhauserinnen und Schaffhauser gestanden.

Diese Einzigartigkeit – kein anderer Schweizer Kanton kennt die Stimmpflicht – hat auch am Urnengang vom Wochenende zum üblichen Resultat geführt. Genau 62.26% aller stimmberechtigten Schaffhauser Bürger haben sich zu Osthilfegesetz und vereinheitlichten Kinderzulagen geäussert.

Damit liegen die Schaffhauser meilenweit vor den Solothurnern, die mit exakt 50% Platz zwei im Kantons-Ranking belegen. Schlusslicht ist Graubünden mit 35,1%.

«Die Pflicht gilt für alle stimmberechtigten Männer und Frauen bis zum 65. Altersjahr», sagt Hanspeter Pletscher gegenüber swissinfo. Als Weibel ist er in der Stadt Schaffhausen seit 17 Jahren verantwortlich für die Durchführung der Urnengänge.

Die Pflicht gilt gemäss Artikel 9 des Wahlgesetzes nicht nur für alle Abstimmungen und Wahlen auf Gemeinde-, Kantons- und eidgenössischer Ebene, sondern auch für die Teilnahme an den Gemeindeversammlungen.

Bei Wahlen noch höher

Es gebe klare Unterschiede zwischen Sachgeschäften und Wahlen, erklärt Pletscher. «Bei Wahlen liegt die Stimmbeteiligung höher, ausser bei sehr umstrittenen Sachvorlagen wie beispielsweise derjenigen über den Beitritt der Schweiz zum EWR 1992, da gingen 90% der Stimmberechtigten an die Urne.»

Bussen ja,…

Was passiert mit denjenigen, die ihrer Stimmpflicht nicht nachkommen? Sie müssen pro versäumten Urnengang drei Franken Busse bezahlen, ein Betrag, der seit 20 Jahren nicht mehr angepasst wurde.

«Davon werden wir aber nicht reich», betont Pletscher. Jährlich kommen so in der Stadt zwischen 40’000 bis 80’000 Franken Bussen zusammen. Gelder, die zum grossen Teil durch den administrativen Aufwand – Porti und Bearbeitungskosten – gleich wieder aufgebraucht werden.

… aber keine Betreibungen

Nach drei Mahnungen sind es jeweils zwischen 2000 und 3000 Franken, welche die Stadtkasse abschreiben muss. Laut Pletscher wird niemand der Säumigen betrieben, «das würde sich für 12 oder 15 Franken nicht lohnen».

Die Stimmpflicht wird weiter relativiert durch die Möglichkeit, den Stimmausweis an die Behörden zu retournieren, dies sogar bis eine Woche nach dem Urnengang. Damit bleibt die Urnenabstinenz ohne Folgen.

Als Entschuldigung akzeptieren die Behörden laut Wahlgesetz Militär- und Zivildienst sowie familiäre und berufliche Pflichten, Krankheit und tiefe Trauer.

Geschärfter Bürgersinn?

«Die Menschen in Schaffhausen wissen mehr über Politik, und dieses erhöhte Interesse zieht sich quer durch alle Schichten», sagt die Politikwissenschafterin und Journalistin Isabelle Domokos, die Ende 2005 ihre Lizentiatsarbeit zum Schaffhauser Phänomen vorgelegt hat.

Dies habe aber nichts mit angedrohten Bussen zu tun, sondern mit generellem Interesse an Politik, glaubt die Zürcherin. «Ich habe Familien getroffen, in denen der gemeinsame Urnengang eine jahrzehntelange Tradition ist», sagte Domokos.

Dass der Stimmzwang zu einer erhöhten politischen Beteiligung auch der bildungsferneren Schichten führt, verneint sie aber klar.

Gang zu den Bürgern

Im Gegensatz zur Politologin stellt der «Praktiker» Pletscher kein überdurchschnittliches Interesse an Politik fest: «Wir haben keine erhöhte politische Aktivität».

Dafür ein sehr treues Stimmpublikum, was sich im kleinen Anteil der brieflich abgegebenen Stimmen zeige, die nur 20% ausmachten, während der entsprechende Anteil in den anderen Kantonen höher liege. In der Tat: Ende 2005 wurden in der Schweiz 75% aller Stimmen per Post abgegeben.

Der Stadtweibel hebt hingegen hervor, was mit Pflege der Kunden- oder besser Stimmbürgerbeziehungen bezeichnet werden könnte: «Wir machen sehr viel, um die Attraktivität des Abstimmens zu erhöhen.»

Dazu gehörten sehr lange Öffnungszeiten der Stimmlokale und Besuche mit mobilen Urnen in die Alten- und Pflegeheime sowie Kliniken. «Nicht nur die Betreuten, sondern auch die Betreuer schätzen diese Möglichkeit sehr», so Pletscher.

swissinfo, Renat Künzi

Im jungen Bundesstaat (nach 1848) galt in mehreren Kantonen der Stimmzwang, so auch in Bern und Aargau. Dort wurde er 1971 aufgehoben.

Im Kanton Schaffhausen gibt es den Stimmzwang seit 1876. Das heutige Wahlgesetz spricht nicht mehr von Stimmzwang, sondern von Stimmpflicht (Art. 9).

In Schaffhausen sind alle drei bisherigen Versuche zu Abschaffung der Stimmpflicht gescheitert. Letztmals vor zehn Jahren, als rechte Kreise den «alten Zopf abschneiden» wollten.

In vielen Gemeinden gilt bis heute noch der Amtszwang. Dies ist die Pflicht, dass ein Bürger ein Amt für mindestens eine Amtsdauer annehmen muss, in das er gewählt worden ist.

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