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Das Volk soll nicht über alles entscheiden

Das Parlament will nicht noch mehr Abstimmungen. Keystone

Das Stimmvolk soll bei Staatsverträgen vermehrt mitreden können. Der Nationalrat hat sich am Mittwoch für den direkten Gegenvorschlag zur Volksinitiative "Staatsverträge vors Volk!" ausgesprochen. Das Volksbegehren erhielt nur die Unterstützung der SVP.

Bereits heute müssen Volk und Kantone obligatorisch über gewisse internationale Abkommen entscheiden.

Dieses obligatorische Referendum betrifft aber nur spezifische Abkommen. Etwas solche, bei denen es um einen Beitritt der Schweiz in Organisationen für kollektive Sicherheit (z.B. die Nato) oder in supranationale Gemeinschaften (z.B. die EU) geht.

Eine Initiative der rechtspopulistischen Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (Auns) will völkerrechtliche Verträge «in wichtigen Bereichen» künftig zwingend Volk und Kantonen zur Abstimmung vorlegen.

Darunter fallen auch Verträge, die einmalige Ausgaben von mehr als 1 Milliarde Franken oder neue wiederkehrende Ausgaben von über 100 Millionen Franken nach sich ziehen.

Die Auns hatte die Initiative «Staatsverträge vors Volk!» am 11. August 2009 mit 108’579 gültigen Unterschriften eingereicht.

Unterstützung der konservativen Rechten

Die Auns-Initiative fand im Nationalrat, der grossen Kammer des Schweizer Parlaments, lediglich bei der konservativen Rechten Unterstützung. Während der viereinhalbstündigen Debatte verteidigten die Abgeordneten der Schweizerischen Volkspartei (SVP) die Initiative.

Die SVP erklärte die Entscheidung über die Initiative zur Grundsatzfrage für oder gegen das Volk. Die Initiative stärke die direkte Demokratie, sagten die SVP-Vertreter. Die Regierung treibe internationale Verträge voran und schalte so den Volkswillen aus.

«Wer nah am Volk ist, stimmt für die Volksinitiative», hielt Hans Fehr (SVP, Kanton Zürich) fest. Denn diese ermögliche es den Stimmbürgern, künftig über alle wichtigen völkerrechtlichen Verträge abzustimmen. Und Yves Nidegger (SVP, Genf) sagte: «Im gleichen Moment, in dem uns unsere Nachbarn mit Neid betrachten und sehen, dass wir über alle möglichen Fragen abstimmen können und sie nicht, scheinen unsere Eliten ob dieser Tradition ermüdet zu sein.»

Demokratie tötet Demokratie

Die Vertreter der besagten «Eliten», das heisst die Nationalräte praktisch aller anderen Parteien, liessen sich von der Rhetorik der SVP nicht überzeugen.

Sowohl Vertreter aus dem bürgerlichen wie auch dem linken Lager listeten während der Debatte die ihrer Ansicht nach zahlreichen Mängel der Initiative auf.

«Der Bundesrat schliesst jeden Tag einen Staatsvertrag, das Parlament jede Woche», hielt Sozialdemokrat Hans-Jürg Fehr (SP, Schaffhausen)  ironisch fest. Selbst wenn davon nur die «wichtigen Bereiche», wie es die Initianten fordern, zur Abstimmung gelangten, sei die direkte Demokratie überfordert.

Edi Engelberger, Nidwaldner Nationalrat der 

Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP.Die Liberalen), warnte vor «Abstimmungsverdruss, Mehraufwand und Verzögerungen». Hans Stöckli (SP, Bern) zitierte eine Schätzung des Eidgenössischen Justizdepartements zu den Konsequenzen der Initiative. Demnach hätte das Stimmvolk zwischen 2005 und 2010 über 22 Staatsverträge abstimmen müssen. Es könne nicht sein, dass zweitrangige Staatsverträge durch eine mögliche Volksabstimmung blockiert würden, kritisierte Christdemokratin Esther Egger (CVP, Aargau).

Kritisiert wurde auch, die Initiative enthalte schwammige Ausdrücke – oder gar «schludrige» Formulierungen, wie es Josef Lang (Grüne, Zug) ausdrückte. Es sei nicht klar, was die Initianten unter «wichtigen Bereichen» verstünden.

Und Jean-Claude Rennwald (SP, Jura) schloss: «Man hat es schon gesagt, für die Rechte töten zu hohe Steuern die Steuern. Ich sage in Anlehnung dazu, zu viel Pseudo-Demokratie tötet die Demokratie.»

Gegenvorschlag

Den direkten Gegenvorschlag des Bundesrats hiess der Nationalrat mit 115 zu 52 Stimmen bei 4 Enthaltungen gut. Dagegen stimmte die SVP.

Der Bundesrat will der Stimmbevölkerung zwar auch mehr Mitspracherecht zugestehen, er geht jedoch weniger weit als die Initiative.

Demnach soll das obligatorische Referendum nur für Staatsverträge eingeführt werden, die von ihrer Bedeutung her auf der gleichen Stufe wie die Bundesverfassung stehen.

Der Nationalrat und Justizministerin Simonetta Sommaruga waren sich einig: Das Anliegen der Initianten der Auns, dem Stimmvolk mehr Mitsprache zuzugestehen, sei gut. «Nur ist es mit der direkten Demokratie schlecht zu vereinbaren, wenn das Stimmvolk über jede Detailfrage entscheiden muss», erklärte Sommaruga ihre Vorbehalte.

Der Gegenvorschlag merze diese Schwäche aus, sagte die Bundesrätin. Gemäss dem Gegenvorschlag kämen ein Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) oder die Annahme der europäischen Sozialcharta an die Urne – jedoch nicht jedes Doppelbesteuerungs- oder Freihandels-Abkommen.

Das Geschäft kommt noch in den Ständerat, die kleine Parlamentskammer.

Die Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (Auns) ist ein Verband, der 1986 nach dem Nein des Stimmvolks zum UNO-Beitritt der Schweiz gegründet wurde.

Die Auns wehrt sich namentlich gegen eine zu grosse Annäherung an die Europäische Union (EU), gegen den Einsatz von Schweizer Armeeangehörigen in internationalen Missionen, gegen die Abkommen von Schengen/Dublin und gegen unnötige Engagements in der Aussenpolitik.

Die Auns bezeichnet sich als «überparteiliche Volksbewegung», die sich an all jene richtet, die «den Wunsch haben, sich für die Erhaltung von Unabhängigkeit, Neutralität, Föderalismus und Freiheit der Bürger einzusetzen».

Die Auns unterhält sehr enge Beziehungen zur Schweizerischen Volkspartei (SVP). Eine grosse Anzahl Politiker der obersten Führungsriege der SVP finden sich daher auch in den Führungsorganen der Organisation.

Der Nationalrat will nicht, dass Volksinitiativen vor Beginn der Unterschriften-Sammlung von einer richterlichen Instanz für ungültig erklärt werden können.

Er hat am Mittwoch eine parlamentarische Initiative aus den Reihen der Freisinnigen mit 101 zu 47 Stimmen bei 16 Enthaltungen abgelehnt.

Isabelle Moret (FDP, Waadt) wies vergeblich auf die Nachteile der heutigen Regelung hin: Heute entscheiden National- und Ständerat über die Gültigkeit, und zwar erst nach der Unterschriften-Sammlung.

Für ungültig erklären können sie eine Initiative dann, wenn diese zwingendes Völkerrecht verletzt, etwa das Verbot von Folter, Völkermord oder Sklaverei.

Nach Ansicht von Moret erfolgt die inhaltliche Prüfung von Initiativen zu spät, und das Parlament ist die falsche Instanz.

Auch der Bundesrat hatte sich gegen die Initiative ausgesprochen: Justizministerin Simonetta Sommaruga gab zu bedenken, dass ein Drittel der lancierten Volksinitiativen gar nie zustande komme, so dass die richterliche Prüfung umsonst wäre.

(Übertragung und Adaption aus dem Französischen: Jean-Michel Berthoud)

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