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Das Volk soll über Jurafrage entscheiden

Der Jura: Seine Tannen, seine grünen Weiden, seine politischen Spannungen. Keystone

Nach 15 Jahren Arbeit hat die Interjurassische Versammlung ihren Bericht vorgestellt. Zur Diskussion stehen zwei Modelle: Status quo+ oder neuer Kanton. Für viele Beobachter zeigt die Jurafrage vor allem, wie schwer sich die Schweiz mit Erneuerungen tut.

Das Modell «Status Quo+» sieht vor, dass der Berner Jura beim Kanton Bern bleibt. Seine Stellung soll aber weiter gestärkt werden. Ein Modell, das wenig Risiken birgt, dafür aber auch nicht so wirkungsvoll ist.

Das zweite Modell ist ein kühnerer Wurf, deshalb aber auch mit grösseren Risiken behaftet. Es will aus dem Berner Jura und dem heutigen Kanton Jura einen neuen Kanton schaffen, der nur noch aus sechs Gemeinden bestehen würde.

Die Lösung der Jurafrage müsse im interjurassischen Dialog erfolgen, so das Fazit der Versammung. Das Volk solle entscheiden, welche Lösung es will. Die Kantone Bern und Jura müssten unter Federführung des Bundes eine Volksabstimmung organisieren.

Geteilte Bevölkerung

Eine Hügellandschaft, eine Hochebene und Täler trennen auf einer Länge von rund hundert Kilometern eine katholische Bevölkerung «im Norden» von einer protestantischen «im Süden»:

Im Norden dieser Region leben rund 70’000 Personen, im Süden 55’000. Zwischendrin: eine Kantonsgrenze. Vor mehr als 30 Jahren schieden sich hier die Geister. Die Leute im Norden entschieden sich für einen eigenen Kanton, den Kanton Jura, während jene im Süden es vorzogen, im angestammten Kanton Bern zu bleiben.

Auch ohne blutigen Zwist hatten sich die beiden Regionen derart auseinander dividiert, dass es nötig wurde, eine Art Versöhnungsarbeit oder zumindest eine Wiederannäherungsarbeit einzusetzen. Denn die Zusammenarbeit blieb schwierig, und in einzelnen Bereichen war sie gar ausgeschlossen.

In verschiedene Kantone fragmentiert

Aus diesem Grund wurde die Interjurassische Versammlung (IJV) vor 15 Jahren ins Leben gerufen. Sie umfasst 12 kantonsjurassische und 12 bernische Vertreter. Präsidiert wird sie von einer externen Persönlichkeit, die der Bundesrat auswählt.

Bereits in den Wochen vor der Veröffentlichung des Berichts hatte sich das Politklima merklich erhitzt, besonders in den betroffenen Regionen. Der Rest des Landes schaute zu, ohne allzu viel zu kommentieren.

Fragmentiert zwischen den Kantonen Jura, Bern, und – dem benachbarten – Neuenburg (Neuchâtel) leidet der Jurabogen wegen seiner peripheren Lage unter einer gewissen geografischen Isolation.

Ausserdem sind die Juraregionen bekannt dafür, ebenso überdurchschnittlich hohe Arbeitslosenzahlen wie Steuersätze zu haben. Es findet auch eine Landflucht der Jugendlichen statt, die sich in den Städten ausbilden und nicht mehr zurückkehren. Zumindest dieser Trend konnte in den vergangenen Jahren dank verbesserter Verkehrsverbindungen etwas verlangsamt werden.

Synergien – aber Sitzverluste in Bern

Es gäbe Synergien, die es dem Jura ermöglichten, jene kritische Grösse zu erreichen, die es für ein effektiveres wirtschaftliches und politisches Gewicht braucht.

Dieser Gedanke liegt hinter den Vereinigungs-Aufrufen mit Neuenburg. «Ein einziger Kanton?», fragt sich der Historiker Hans Ulrich Jost und zuckt mit den Schultern: «Ich glaube nicht daran.»

Und fügt zumindest ein Argument dagegen an: «Die Romandie kann es sich nicht leisten, im Nationalrat zwei Sitze zu verlieren, was bei einer Fusion mit Neuenburg die Folge wäre. Die französische Schweiz würde damit bei Entscheiden, die die Mehrheit der Kantone erfordert, Gewicht und Einfluss verlieren. Sie würde auch Sitze in den Parlamentskommissionen verlieren.»

Auf den Punkt gebracht: «Ohne eine tiefgreifende institutionelle Änderung der politischen Struktur würden also die Appenzeller weiterhin mehr Gewicht als die Romands behalten…»

Eine «völlig erstarrte» Schweiz

Jost sieht das grundsätzliche Problem ganz woanders: Die Frage sei nämlich jene «der Idee, die sich die Schweiz von sich selber macht». In welchem Mass sei die Schweiz überhaupt noch im Stande, ihre Strukturen anzupassen, fragt sich Jost.

Der Dozent an der Uni Lausanne antwortet gleich selber darauf: «Die Schweiz ist dermassen erstarrt, dass ohne Druck von Aussen nichts möglich ist. Dieser Zustand dauert nun seit Beginn des 20. Jahrhunderts an. Damals wurde die Stabilität zum Verkaufsargument und zum Anlass, den Finanzplatz zu schützen.»

In einem Interview mit der Westschweizer Tageszeitung Le Temps bestätigt Ola Söderström diese Meinung. Der Professor für Sozial- und Kulturgeografie an der Uni Neuenburg sagt: «Das Modell der 26 Kantone hat ausgedient!»

Ein oder zwei Kantone für die gesamte Romandie?

In einem Punkt unterscheidet sich Söderströms Meinung von Jost: «Das Zusammengehen von Neuenburg mit dem Kanton Jura wäre ein wichtiger Etappenschritt dazu, die Romandie in einem oder zwei Kantonen neu zu strukturieren.»

Obschon überzeugter Anhänger eines Zusammengehens der beiden Kantone, fürchtet der Jurassier, Gewerkschafter, sozialdemokratische Nationalrat und Autor verschiedener Jura-Publikationen, Jean-Claude Rennwald, die Folgen der Wirtschaftskrise: «Ich bin nicht sicher, ob in Krisenzeiten Änderungen möglich sind.»

Blick nach Brüssel

Auch wenn die Spannung bei Politikern und in den militanten Organisationen im Vorfeld des Berichts spürbar gestiegen sei, sei die Bevölkerung doch ziemlich teilnahmslos geblieben, so Rennwald. «Die Jungen sind nicht interessiert. Arbeitsplätze und Kaufkraft wiegen zur Zeit viel mehr.»

Sowohl Rennwald auch auch Jost blicken nach Brüssel: «Die Europäische Union hat die Dinge auch in Irland in Fluss gebracht. Wäre die Schweiz EU-Mitglied, könnte das auch einen positiven Einfluss auf die Lösung der Probleme im Jura haben.»

swissinfo, Ariane Gigon
(Übertragung aus dem Französischen: Alexander Künzle)

1815: Anlässlich des Wiener Kongresses wird der Jura dem Kanton Bern zugeteilt. Seit 1793 war dieser Teil des Fürst-Bistums Basel ein französisches Departement.

1950: Das Stimmvolk des Kantons Bern sagt Ja zu einer Verfassungsänderung. Französisch wird zweite Amtssprache, die jurassischen Bezirke erhalten zwei garantierte Sitze in der Kantonsregierung.

1974: Das jurassische Volk entscheidet sich für einen eigenen Kanton. Die drei südlichen und protestantischen Bezirke bleiben beim Kanton Bern, das Laufental wechselt zum Kanton Basel-Landschaft.

1978: Das Schweizer Stimmvolk spricht sich für die Gründung eines neuen Kantons aus. Er besteht aus drei Bezirken und ist mehrheitlich katholisch.

1994: Unter der Ägide des Bundesrates unterzeichnen die Kantone Jura und Bern die Gründung der ‹Interjurassischen Versammlung› (IJV), welche die Versöhnung vorantreiben soll.

2009: Am 4. Mai gibt die IJV im Beisein von Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf ihren Bericht ab, der Lösungen für die Jurafrage aufzeigt.

Der Kanton Jura ist der 26. und jüngste Kanton der Schweiz.

Er entstand 1979 nach der eidgenössischen Volksabstimmung am 24. September 1978, als er vom Berner Jura abgetrennt wurde.

Im Kanton Jura leben rund 70’000 Menschen auf einer Fläche von 839 km2.

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