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Deiss-Rücktritt: Presse ist gespalten

Joseph Deiss geht - folgt Doris Leuthard? swissinfo.ch

Die Urteile über den zurücktretenden Wirtschaftsminister Joseph Deiss gehen auseinander: Deutschschweizer Medien gehen mit ihm kritischer ins Gericht als Westschweizer Zeitungen.

Der Anspruch der Christlichdemokraten auf deren Regierungssitz ist aber unbestritten. Kronfavoritin für die Nachfolge ist Doris Leuthard.

«Joseph Deiss war ein solider, unspektakulärer Bundesrat»: Eigentlich ist mit dem ersten Satz im Kommentar des Berner Bund alles gesagt. Fast, aber doch nicht ganz alles.

«Richtiger Moment», finden die Freiburger Nachrichten zum Rücktritt des Bundesrates aus ihrem Kanton. Damit habe er «offenbar wirklich alle auf dem falschen Fuss erwischt».

Aus nüchterner Zürcher Distanz tönt es anders: «Ob die Demission wirklich auf einem glücklichen Höhepunkt erfolge, bleibe dahingestellt», schreibt die Neue Zürcher Zeitung.

Und die Tribune de Genève schreibt: «Une démission qui sonne comme une protestation». Ein Rücktritt, der wie ein Protest klinge.

Kein Kämpfer

Einigkeit herrscht hingegen über den Grund von Deiss› vorzeitigem Abgang: «Josef Deiss hat genug. Genug vom Bundesrat und vor allem genug von diesem Bundesrat», bringt es der Zürcher Tages-Anzeiger auf den Punkt.

Konkret: «Seit Christoph Blocher in der Landesregierung mitwirkt, geht es dort rauer zu und her.» Als klassischer Konsenspolitiker mit Harmoniebedürfnis habe Deiss nicht mehr in den neuen Bundesrat gepasst, so der Tagi.

«Deiss beendet Dauerspagat» titelt die Neue Luzerner Zeitung. Sie charaktierisiert ihn als «Nice Deiss», den netten Bundesrat, der niemandem habe weh tun wollen, und als «personifizierten Schweizer Polit-Kompromiss».

Weiser und Gentleman

Die Freiburger Liberté hingegen erhebt «ihren» Bundesrat über alle Streitereien im Gremium: «Un Sage trop sage dans un collège soudainement chahuté par des problèmes de discipline» – Ein zu Weiser in einem Kollegium, das plötzlich von Disziplinproblemen durchgeschüttelt wurde.

Der Corriere del Ticino beschreibt Deiss als «seriösen Gentleman, der aber keine Begeisterung zu entfachen vermochte».

Schwacher Bundesrat

Wenns um die Hinterlassenschaft von Deiss geht, sind die netten Töne aber vorbei: «Zu schwach, zu blass, wenn es mal hart zur Sache ging», urteilt die Berner Zeitung. Immerhin schreibt sie Deiss zu, die Schweiz in die UNO geführt zu und die Beziehungen zu Europa gefestigt zu haben.

Einer, «der es gut meinte, oft aber glücklos agierte», urteilt die Aargauer Zeitung.

Besonders kritisch bewertet die Basler Zeitung das politische Erbe: «Lange wird uns Bundesrat Deiss nicht in Erinnerung bleiben. Zu dürftig ist seine Bilanz aus sieben Amtsjahren.»

Doping für Wahlen 2007

Das sieht Le Matin aus Lausanne anders: «Deiss› Bilanz bleibt positiv, trotz schwarzer Flecken wie Agrarpolitik oder Jugendarbeitslosigkeit.»

Le Matin attestiert Deiss auch taktisches Geschick. Ein neues CVP-Gesicht in die Regierung werde zum Doping für die Partei bei den Eidgenössischen Wahlen 2007. «Surtout s’il s’agit de la très charismatique Doris Leuthard» – vor allem, wenn es sich um die charismatische Doris Leuthard handelt, so Le Matin.

Das sieht auch der Corriere del Ticino so, der vermutet, dass der Rücktritt im Interesse der Partei erfolgt sei.

Nach dem Rücktritt ist vor der Wahl

Doch neben der Würdigung des Abtretenden dreht sich fast noch mehr um die Frage, wer den Wirtschaftsminister in der Schweizer Regierung ersetzt.

Für die Boulevard-Zeitung Blick steht fest: «Jetzt schlägts DORIS!» Um dann gleich wieder einen Schritt zurück zu machen: Die erfolgreiche CVP-Präsidentin Doris Leuthard sei zu Recht Favoritin. «Aber wir wissen noch zu wenig von ihr.»

Für den Blick ist aber klar, dass der rechts-populistische Justizminister Christoph Blocher das verwaiste Wirtschaftsdepartement übernehmen muss.

«Warten auf Leuthard» lautet die Situation nach dem Bundesrats-Rücktritt gemäss Berner Zeitung, die klar eine Frau als neues Regierungsmitglied fordert.

Der Tages-Anzeiger greift immerhin zum Fragezeichen: «Kommt nun Leuthard?» Die CVP könne sich nun mit einem neuen Gesicht im Bundesrat profilieren. «Und dieses Gesicht hat einen Namen: Doris Leuthard.»

Auch Schwaller genannt

Die Neue Zürcher Zeitung bringt neben der Aargauer Nationalrätin und CVP-Präsidentin auch den Freiburger Ständerat und CVP-Fraktionspräsidenten Urs Schwaller ins Spiel.

Für die Aargauer Zeitung aber ist der Fall klar. Auf der Liste der möglichen Nachfolgenden steche der Name Doris Leuthard hervor. «Die Kandidatenkür dürfte sich wohl auf die Frage reduzieren: Wer denn sonst?»

swissinfo, Renat Künzi

Der Nachfolger oder die Nachfolgerin von Joseph Deiss wird vom Schweizer Parlament (National- und Ständerat) im Juni in der Sommersession gewählt.

Es wird damit gerechnet, dass die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) einen Zweier-Vorschlag unterbreitet.

Parteipräsidentin Doris Leuthard gilt als Kronfavoritin.

Die 7 Sitze in der Regierung werden unter den 4 grossen Parteien gemäss der so genannten Zauberformel verteilt. Diese stammt von 1959 und richtet sich in erster Linie nach dem Wähleranteil.

In der ursprünglichen Formel hatten die Freisinnig-Demokratische Partei, die CVP und die Sozialdemokraten je 2 Sitze. Die Schweizerische Volkspartei hatte 1 Sitz.

2003 wurde die Zauberformel gesprengt: Die CVP verlor 1 Sitz zu Gunsten der SVP, die zur stärksten politischen Kraft geworden war.

In der Regierung herrscht das Kollegialitäts-Prinzip. Bundesräte müssen Entscheide des Gremiums geschlossen gegen aussen vertreten, auch wenn sie persönlich anderer Meinung sind.

Das Kollegialitäts-Prinzip sorgte in den letzten Jahren mehrere Male für Streit in der Regierung.

Joseph Deiss wurde 1946 in Freiburg geboren, ist verheiratet und Vater dreier Kinder.
Er war Wirtschafts-Professor an der Universität Freiburg.
Von 1993 bis 1996 war er Schweizer Preisüberwacher.
Am 11. März 1999 wurde er in den Bundesrat gewählt, wo er das Aussenministerium übernahm.
2003 wechselte er ins Wirtschaftsministerium.
2004 war er Bundespräsident.

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