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Demokratie – «die beste aller schlechten Regierungsformen»

Martina Imfeld und Claude Longchamp: "Die direkte Demokratie hat sehr viele Vorteile. Aber auch einen grossen Haken: den Umgang mit Minderheiten." swissinfo.ch

In der direkten Demokratie Schweiz hat das Volk das letzte Wort. Die Annahme von Initiativen wie Minarett-Verbot oder Ausschaffung straffälliger Ausländer initiierte eine Debatte über Nachteile der Volksrechte. "Im Umgang mit kulturell-religiösen Minderheiten stossen direktdemokratische Entscheide an Grenzen", sagt Politologe Claude Longchamp.


Das Interview führte swissinfo.ch mit dem Leiter des Forschungsinstituts gfs.bern und seiner Kollegin Martina Imfeld.

swissinfo.ch: Volksinitiativen, die in den letzten Jahren angenommen wurden, brachten oft Symbolentscheide, Stichwort Minarett-Verbot, Ausschaffung straffälliger Ausländer, Abzocker-Initiative, lebenslange Verwahrung pädophiler Straftäter und Beschränkung der Zuwanderung. Dahinter stehen aber äusserst komplexe politische und gesellschaftliche Problemstellungen. Kann die direkte Demokratie, die nur Ja, Nein oder Abstinenz vorsieht, diesen überhaupt noch gerecht werden?

Martina Imfeld: Als Sozialwissenschaftlerin sage ich, es kommt darauf an, wie man die Fragen stellt und welche man in die Entscheidprozesse einspeist. Die Demokratie ist die beste aller schlechten Regierungsformen. Die Probleme liegen nicht im Antwort-Verhalten, sondern darin, dass Probleme vom System vernachlässigt oder zu langsam angepackt werden.

«Mehrheitsentscheide können zur Tyrannei der Mehrheit werden.»  Martina Imfeld

Die direkte Demokratie hat sehr viele Vorteile. Der Mehrheitsentscheid ist die beste Form der Regulierung von Konflikten. Aber sie hat einen Haken – den Umgang mit Minderheiten. In unseren Untersuchungen haben wir entdeckt, dass ein echtes Problem besteht, wenn Mehrheitsinteressen krass gegen Minderheitsinteressen gerichtet sind.

Zum erwähnten Minarett-Verbot: Die Muslime, die in der Schweiz einen Anteil von vier Prozent ausmachen, haben in einer Mehrheitsdemokratie nie eine Chance, ihren Wunsch nach Minaretten zum Ausdruck zu bringen. Besonders im Umgang mit kulturellen und religiösen Minderheiten können direktdemokratische Entscheide an eine Grenze stossen. Mehrheitsentscheide können gar zur Tyrannei der Mehrheit werden.

Claude Longchamp: Das ist auch Juristen bewusst, wenn sie sich etwa mit der Frage befassen, ob man Menschenrechte mit demokratischen Entscheiden aushebeln kann oder nicht. Die Schweiz würde gut daran tun, die juristischen Grenzen der direkten Demokratie etwas klarer zu fassen, ohne diese aber in Frage zu stellen, denn diese ist zutiefst verankert in der Seele der Schweiz.

swissinfo.ch: Zu viel Opposition macht die Schweiz unregierbar, warnen Sie. Wo soll geschraubt werden? An den Volksrechten oder an den Mechanismen der «Checks and Balances», um Ausgleich, Verhältnismässigkeit, Kontinuität, Stabilität und Rechtsstaatlichkeit zu stärken?

C.L.: Die Einführung der direkten Demokratie in der Bundesverfassung 1874 hat latent zu Phasen der Unregierbarkeit geführt. Das System von Regierung und Opposition des 19. Jahrhunderts wurde mit Elementen der direkten Demokratie ergänzt. Aber niemand hatte Erfahrung damit, wie das Zusammenspiel von direkter Demokratie mit Regierung und Opposition funktionieren sollte.

Spätestens in den 1930er-Jahren gelangte man zur Einsicht, dass es Vermittlungsverfahren braucht. Also eine Art kontrolliertes Konflikt-Management, bevor Regierung und Volk politische Entscheidungen trafen. Klassisch ist die Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern (die im «Arbeitsfrieden» von 1937 in der Metall- und Uhrenindustrie gipfelte, die Red.). Die Sozialpartnerschaft ist eine Institution der informellen Konfliktregelung ausserhalb der Politik.

Innerhalb der Politik hat man erkannt, dass die grossen, relevanten Parteien in der Regierung vertreten sein müssen – das führte zur klassischen Konkordanz. Seit 20 Jahren baut man indes informelle Konfliktlösung und Konkordanz wieder ab. Das ist ein effektives Problem, dem sich die Schweiz stellen muss. Wir haben jetzt also eine Rückkehr zu jener Phase vor den 1930er-Jahren.

«Aus dem Föderalismus und der Vielgestaltigkeit der Schweiz heraus empfiehlt es sich, kooperative Formen in Wirtschaft und Gesellschaft wieder zu stärken.» Claude Longchamp

Meine These: Es ist unmöglich, einmal eingeführte direkte Demokratie zu ändern. Aus dem Föderalismus und der Vielgestaltigkeit der Schweiz heraus empfiehlt es sich aber, kooperative Formen in Wirtschaft und Gesellschaft wieder zu stärken. Dies ist gleichzeitig die wichtigste Botschaft der Schweiz ans Ausland: Direkte Demokratie führt unweigerlich zu kooperativen und nicht konfrontativen Formen. Je mehr Konfrontation und direkte Demokratie, desto mehr Probleme werden wir haben.

Die Interviewpartner

Claude Longchamp, Politikwissenschaftler und Historiker, leitet das Forschungsinstitut gfs.bern. Dieses erstellt u.a. im Auftrag der SRG SSR, zu der auch swissinfo.ch zählt, die Umfragen zu Abstimmungen und Wahlen («SRG-Trend»). An Wahl- und Abstimmungs-Sonntagen erläutert Longchamp am Schweizer Fernsehen SRF die Hochrechnungen, die gfs.bern ermittelt. Er liefert ebenfalls erste Analysen der Schlussergebnisse.

Die Politik- und Sozialwissenschaftlerin Martina Imfeld ist Projektleiterin bei gfs.bern. Sie zeichnet verantwortlich für die Analyse politischer Themen, insbesondere bei nationalen Abstimmungen und Wahlen («SRG-Trends» und «VOX-Analysen»). Weitere Publikationen (Auswahl): Jugendbarometer 2014, VOX-Trend Jahresbericht 2013, Sorgenbarometer 2013, Identitätsbarometer 2013.

swissinfo.ch: Das Verhältnis zu Europa und die Migration sind die grössten aktuellen Konfliktherde in der Schweizer Politik. Welche kooperativen Formen sind hier gefragt?

C.L.: Es ist meine tiefste Überzeugung, dass der EWR-Beitritt 1992 daran gescheitert war, dass sich die Wirtschafts- und Sozialpartner nicht einig waren. Sie stritten darüber, ob der Beitritt zur Deregulierung oder zur Re-Regulierung beiträgt. Die Bürger sagten sich dann: «Die sind sich nicht einig, also sagen wir mal nicht Ja dazu.»

Danach haben die meisten, gerade auch die Wirtschaftsverbände, gelernt, dass die Bilateralen Verträge ein Wirtschaftsprojekt sind, in dem die Partner miteinander nach Lösungen suchen mussten. Einerseits für einen Arbeitnehmerschutz, andererseits auch für eine deregulierte Wirtschaft. Genau das war das Erfolgsrezept der Bilateralen: Wir haben unterhalb der Stufe der EU-Mitgliedschaft eine Art der regulierten Partizipation gefunden. Das ist das Vorbild, das die Richtung vorgibt.

swissinfo.ch: Die Debatte über die Nachteile der direkten Demokratie ist in der Schweiz in Gang gekommen, beschränkt sich aber noch mehrheitlich auf Expertinnen und Experten. Wie kann sie näher zu den Bürgern getragen werden?

M.I.: Ein Weg ist eingeschlagen, nämlich mit der aktuellen Diskussion, wie wir mit dem Entscheid vom 9. Februar (2014, Beschränkung der Zuwanderung, die Red.) umgehen. Heute ist viel mehr Bürgern bewusst, dass wir teilweise über Inhalte abstimmen, die juristisch heikel sind.

C.L.: Wir haben die Tendenz zu einer politischen Illusion, nämlich jener des «sanktionslosen Neins». Die Schweiz will Nein sagen, ohne dass dies Konsequenzen hat. Aber man soll dieses Nein gefälligst hören! Es ist eine typisch schweizerische Vorstellung, dass wir machen dürfen, was wir wollen, und die anderen dürfen es zur Kenntnis, aber nicht ernst nehmen. In einer interdependenten Welt ist das zu einer Illusion geworden. Möglicherweise hat sich die Schweiz getäuscht, als sie dachte, sie könne bei der EU abseits stehen, dann Forderungen stellen, schliesslich Ja oder Nein dazu sagen, und niemanden interessiert es.

swissinfo.ch: Markiert der 9. Februar für die direkte Demokratie der Schweiz ein Wendepunkt?

C.L.: Nicht für die direkte Demokratie, aber für die Schweizer Politik. Diese war lange Zeit ein wenig frivol, weil sie glaubte, sie kriege den Fünfer und den Wecken. Das ist vorerst vorbei. Vielleicht ändert sich diese Haltung aber, wenn sich die Wirtschaftslage in der EU ändert.

Der Coup der Bilateralen gelang, weil die Schweiz das Ziel des EU-Beitritts akzeptierte. Dafür hat sie einige Vorteile behalten können. Heute ist der EU-Beitritt fraglich, und Nischen werden von Brüssel geschlossen. Da muss sich die Schweiz auf eine neue Situation einstellen.

swissinfo.ch: Aber auch Brüssel könnte sich in Sachen direkter Demokratie mehr an der Schweiz orientieren?

C.L.: Vielleicht ist es auch an der EU, zu lernen, dass direkte Demokratie manchmal ein bisschen ärgerlich ist. Aber diese hat einen gigantischen Vorteil: Sie setzt auf das Vertrauen in die Bürger und auf ihre Mobilisierung, man könnte heute auch von Schwarm-Intelligenz sprechen.

M.I.: In Frankreich oder Russland vertraut man in einzelne «Übermenschen», die wissen, wo es lang geht. Wir sind der Meinung, dass wenn viele mitreden, am Schluss kein dummes Resultat rauskommt, zumindest nicht auf Dauer. Das ist die Botschaft der direkten Demokratie an die anderen Systeme. 

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