«Von dramatischem Demokratie-Rückgang kann keine Rede sein»
"Meinungsäusserungsfreiheit unter Beschuss" und "Demokratie setzt dramatischen Rückzug fort": So titelte The Economist seinen Demokratie-Index 2017. Solche Töne seien fehl am Platz, sagt Bruno Kaufmann, internationaler Demokratie-Korrespondent von swissinfo.ch.
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Laut neuestem internationalen Demokratievergleich der britischen Wochenzeitschrift The EconomistExterner Link wiesen 2017 über die Hälfte der untersuchten Länder rückläufige Werte auf (89 von 167).
Nur knapp fünf Prozent der Weltbevölkerung lebten 2017 in einer «echten Demokratie», wogegen fast ein Drittel unter autoritären Regimes stehe. Die Autoren schreiben vom «grössten Rückschlag seit Jahren».
Die Schweiz liegt zwar immer noch in den Top Ten, fiel aber von Platz acht auf neun zurück. Das Ranking führt Norwegen an, gefolgt von Island, Schweden, Neuseeland, Dänemark, Irland, Kanada und Australien. Gleichauf mit der Schweiz liegt Finnland. Die letzten Plätze belegen Tschad, Syrien und Nordkorea.
Finanztransparenz – ewiger Klotz am Bein
«Die Schweiz tut sich insbesondere im Bereich Transparenz in der Parteienfinanzierung weiterhin sehr schwer. Entsprechende Vorstösse und Initiativen werden regelmässig als unnötig abgewiesen, was der Demokratie schadet», sagt Demokratiespezialist Bruno Kaufmann. Punkto Transparenz seien die Nordländer den Schweizern in der Tat weit voraus.
Als weiteren Minuspunkt für die Schweiz nennt er die mangelnde politische Integration der ausländischen Wohnbevölkerung. «Auch bei den die Beteiligungsrechten sind die Länder im Norden Europas fortschrittlicher.»
Enger Fokus
Für den Vergleich klopften die Autoren des Economist die Länder auf 60 Indikatoren ab. Diese sind auf fünf Kategorien verteilt: Wahlprozesse und Pluralismus, Funktionieren der Regierung, politische Beteiligung sowie demokratische Kultur und Bürgerrechte.
Hier setzt Kaufmann mit seiner Kritik an. Die Kriterien als solche stellt er nicht in Frage. Aber er bemängelt deren «sehr beschränkte» Anzahl von lediglich fünf. Diese seien zudem inhaltlich sehr eng gefasst.
«Innerhalb der demokratischen Länder gehören die Schwedinnen und Schweden zu jenen, die sich am seltensten mit ihrer Stimme einbringen können.» Bruno Kaufmann
«Unter die partizipative Demokratie fallen lediglich die Stimmbeteiligung bei Wahlen und die Mitgliederzahlen von Gewerkschaften. Nicht aber direktdemokratische Möglichkeiten und Bürgerbeteiligungen mittels Volksrechten, wie sie die Demokratie Schweiz prägen», sagt Kaufmann, der in Schweden lebt und auch die dortige Staatsbürgerschaft besitzt.
«Das bringt die nordischen Länder an die Spitze. Innerhalb der demokratischen Länder aber gehören die Schwedinnen und Schweden zu jenen, die sich am seltensten mit ihrer Stimme formell einbringen können.»
Lokaldemokratie: wichtig, aber inexistent
Kaufmann kritisiert weiter, dass der Vergleich ausschliesslich auf die Ebene des Nationalstaats fokussiere. Entwicklungen auf regionaler und lokaler Ebene, wo sich Bürger oft einfacher einbringen könnten, blieben unter dem Radar.
Als Gegenbeispiel verweist Kaufmann auf den Bericht «The Global State of Democracy»Externer Link, den International IDEA Ende 2017 publiziert hat. Dies ist eine Vereinigung von 30 Staaten zur Förderung der Demokratie auf internationaler Ebene, der auch die Schweiz angehört.
«Laut dem IDEA-Bericht weist die Demokratie global betrachtet eine erstaunliche Widerstandskraft auf. Namentlich in den Bereichen lokale, regionale sowie partizipative Demokratie ist sie in den letzten Jahren stärker geworden», sagt Kaufmann.
Er verweist auch auf das internationale Forschungsprojekt «Varieties of Democracy», kurz V-DEMExterner Link. Dieses beruht auf der Messung von nicht weniger als 400 Demokratie-Indikatoren.
Kaufmann liegt es fern, aktuellen Druck auf die Demokratie in Ländern wie etwa der Türkei unter den Teppich zu kehren. «Doch die umfassenderen Analysen wie jene von IDEA und V-DEM sehen bei der Demokratie-Entwicklung auch viele Lichtpunkte. Von einem ‹dramatischen Rückzug der Demokratie› weltweit kann keine Rede sein.»
Der Autor auf TwitterExterner Link.
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