«Ohne Konkordanz keine direkte Demokratie»
Jedes Land hat sie. Sie sind nie leicht lösbar: gesellschaftliche Konflikte. Auch die multikulturelle Schweiz ist von ihnen geprägt. Zur friedlichen Beilegung hat sie im 20. Jahrhundert ihr eigenes politisches Rezept gefunden: die Konkordanz. Doch taugt diese auch in Zukunft, um das Land zusammenhalten? Dazu Politikwissenschaftler Wolf Linder.
Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch.
Konkordanz: Wer diesen doch sehr abstrakten Begriff nicht versteht, für den wird auch die Schweizer Politik ein Buch mit sieben Siegeln bleiben. Insider unter der Bundeshauskuppel in Bern kennen alle ihre Schliche, oder sie pfeifen auf sie. Oder beides.
Aussenstehenden aber hilft Wolf Linder auf die Sprünge, ehemaliger Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bern: Die Schweiz sei im 20. Jahrhundert ständigen Bedrohungen von aussen ausgesetzt gewesen. Die grössten waren die beiden Weltkriege sowie der Kalte Krieg. «Dabei hat die Schweiz einen Mechanismus entwickelt, Probleme durch die Technik der Machtteilung zu lösen – die Konkordanz.»
Linder sprach in Bern zum Thema «Gespaltene Schweiz – geeinte Schweiz. Gesellschaftliche Konflikte und die Zukunft der Konkordanz». 2008 war er Mit-Autor eines BuchesExterner Link mit gleichlautendem Titel. Zum Gespräch geladen hatte Lukas Leuzinger, Mit-Autor des Politblogs napeolens nightmareExterner Link.
Es waren aber auch Krisen und Konflikte von innen, welche die Schweiz und ihre Vorläuferin, die Eidgenossenschaft, ständig erschütterten.
Der konfessionelle Graben zwischen Katholisch-Konservativen und Reformierten, Stadt versus Land, Kapital versus Arbeit sowie der Sprachgraben zwischen Deutschschweiz und französischsprachiger Wests und italienischsprachiger Südschweiz: Das sind die vier grossen Konfliktlinien, die Linder in der Geschichte der Eidgenossenschaft und der Schweiz ausmacht.
Auch heute noch wird in der Schweizer Politik mit teils harten Bandagen gestritten. So etwa im Sprachenstreit, über den #DearDemocracy regelmässig berichtet.
Noch gar nicht so lange ist es her, da ging streiten nach Schweizer Art anders – es floss Blut, und das nicht zu knapp. In der vormodernen Schweiz waren Scharmützel bis hin zum Bürgerkrieg, in denen Eidgenossen mit Waffen auf ihre Brüder losgingen, alles andere als eine Seltenheit (siehe Box).
Der letzte dieser Bürgerkriege war der Sonderbundskrieg von 1847. Das Aufbäumen der Katholisch-Konservativen gegen die Liberalen hatte auf zum einen rund 150 Tote und 400 Verletzte gefordert. Zum anderen aber mündete das Blutvergiessen in die Gründung der modernen Schweiz als Demokratie, in der Minderheiten garantierte Rechte haben.
Neu: Europafrage und Ökologie
Konflikt Nummer 1 ist schnell abgehakt. Der Konfessionskonflikt habe sich im 19. Jahrhundert erledigt, sagte Linder. «Dagegen haben die Konflikte zwischen Stadt und Land sowie der soziale Konflikt in den letzten 30 Jahren in der Schweiz zugenommen.»
Dazu sind laut Linder neue Konflikte gekommen. Etwa rund um die Ökologie, wo der Schutz von Klima, Umwelt und natürlichen Ressourcen mit höheren Kosten für die Wirtschaft zu Buche schlügen. Oder um die Frage der Stellung zum Vereinten Europa, welche die Schweiz in ein nationalkonservatives und ein liberal-offenes Lager spalte. «Der Konflikt um die Europafrage überlagert sich mit dem sozialen Konflikt, weil er aufgrund der Globalisierung auch eine starke ökonomische Komponente aufweist», so Linder.
Jura, das Schweizer Pulverfass
Sind diese neuen Konflikte eine Gefahr für den Zusammenhalt der Schweiz, fragt Lukas Leuzinger. Entscheidend für die Eindämmung und Bewältigung von Konflikten ist laut Linder, dass die trennenden Gräben nicht allesamt parallel verlaufen. Wenn die Lager strikt entlang der Konfliktlinien Sprache, Religion und sozialer Stellung getrennt seien, könne es gefährlich werden.
Erst recht, wenn dazu noch die ethnischen Trennlinien hochgekocht werden, wie im ehemaligen Jugoslawien geschehen. Dort führten die aufgerissenen Gräben und Spaltungen in den 1990er-Jahren zum blutigen Krieg, der schliesslich das Ende des Landes besiegelte.
In der Schweiz dagegen verliefen die Gräben quer durch die Gruppen, was eindämmend wirke. Doch es gibt auch hier die grosse Ausnahme: den Jura-Konflikt. «Da kämpfte eine arme, katholische und französischsprachige Minderheit für die Loslösung vom Kanton Bern», so Linder. Zum Verständnis: Bern ist grossmehrheitlich deutschsprachig, reformiert und wirtschaftlich solid aufgestellt.
Trotz etlicher Gewaltakte von hoher Symbolkraft, die meist auf das Konto der Separatisten gingen, erreichten diese ihr Ziel: 1978 sagten über 80% der abstimmenden Schweizer Ja zur Schaffung eines eigenen Kantons Jura.
Es ist dies bis heute eine der ganz wenigen Sezessionen weltweit, die friedlich und demokratisch abgestützt über die Bühne ging. «Da hatten wir Glück in unserer Schweizer Geschichte», lautet Linders Fazit zum Jura-Kapitel.
Konsens? Nein danke!
Was ihm dagegen heute Sorgen bereitet, ist die mangelnde Fähigkeit der Parteien, sprich ihr mangelnder Wille zum Konsens. «Hier gibt es einen dramatischen Wandel: Vor 30 Jahren hatten die Regierungsparteien noch sieben von 10 Vorlagen unterstützt. Heute sind es noch deren zwei.»
Die Gründe dafür sieht er in der Personalisierung und Mediatisierung der Politik. Diese hätten die politische Kultur insofern verändert, als die Kompromissfähigkeit der Akteure heute geringer sei. Gleichzeitig eröffne dies aber auch die Möglichkeit zu neuen Koalitionen, so Linder. «Früher fuhr der Bürgerblock geschlossen quasi als Dampfwalze über die Linken und die Grünen hinweg!»
Dennoch: Die Konkordanz dürfte künftig noch stärker unter Druck kommen, vermutet Linder. Hält er gar einen Wechsel zu einer Koalitionsregierung für möglich? In diesem Fall müsste offen gesagt werden, was der Preis dafür sei: «Die Abschaffung der direkten Demokratie. Ohne Konkordanz keine direkte Demokratie.»
Dass dieses Szenario eintritt, glaubt der Politikspezialist aber nicht. Vielmehr verweist er auf den Kanton Genf. «Dort gab es in den 1990er-Jahren eine rein bürgerliche Regierung. Aber sie hat keine Legislatur gehalten, weil sie vom Volk zu Fall gebracht wurde.» Linders Fazit daraus: eine Mehrheitsregierung, also ohne Einbindung der Opposition, entspreche nicht unserer politischen Kultur. «Und diese ändert sich nicht so schnell.»
Der Autor auf Twitter: @RenatKuenziExterner Link
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