Demokratischere EU wird Herausforderung für Bern
Am 1. Dezember tritt der Vertrag von Lissabon in Kraft. Die neue institutionelle Architektur der Europäischen Union (EU) erschwert die Aufgaben der Schweiz. Sie muss künftig mit neuen Akteuren umgehen und sich neuen Arbeitsmethoden anpassen.
Die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Mitgliedstaaten treten am Donnerstagabend zu einem Sondergipfel zusammen, in der Hoffnung, sich über die Nomination ihres künftigen ständigen EU-Ratspräsidenten zu einigen. Bestimmt wird auch der hohe Repräsentant der EU für die Aussenpolitik, der einen neuen diplomatischen Dienst leiten wird und Vizepräsident der Europäischen Kommission werden soll.
Es handelt sich dabei um zwei grössere Erneuerungen im Vertrag von Lissabon, welche das Funktionieren der EU vereinfachen, diese demokratisieren und ihre Sicht auf die internationale Bühne verbessern sollen.
Ein Europa nach Schweizer Art
«In einem gewissen Sinn sollten die im Vertrag geplanten Fortschritte in der Schweiz gut aufgenommen werden», erklärt Jean Russotto, Anwalt und Beobachter der Beziehungen zwischen der Eidgenossenschaft und der Union. «Das Demokratie-Defizit, an dem die EU leidet, wird sich in der Tat vermindern.»
So wird die Rolle des Europa-Parlamentes aufgewertet. Sein Mitbestimmungsrecht soll auf über 40 neue Sektoren ausgeweitet werden, so auf innere und juristische Angelegenheiten bis zu Umwelt und Forschung.
«Ohne zu übertreiben, wird das Parlament zu einer Art Nationalrat an der Seite des Rats der 27 Minister, der eher einem Oberhaus im Sinne des Ständerats gleicht. Sogar bei Steuerfragen zum Beispiel, wo die Kompetenzen des Parlamentes begrenzt bleiben, werden die Konsultationen ausgebaut.»
Ausserdem werden die nationalen Parlamente innerhalb des EU-Entscheidungs-Prozesses mehr Mitsprache haben – vergleichbar mit den Kantonen der Schweiz. Auch wird das Recht auf Bürgerinitiativen, inspiriert von der direkten Schweizer Demokratie, geschaffen werden.
Aber wird all das der Schweiz zugute kommen? «Nicht wirklich», meint Jean Rossotto.
Neue Gesprächspartner
Indem die Aktionsfreiheit der einzelnen EU-Mitgliedstaaten eingeschränkt wird, zwingt der Vertrag von Lissabon auch Bern, mit einem neuen und wenig bequemen Akteur umzugehen: dem Europäischen Parlament. «Nun sind wir nicht besonders gut ausgerüstet oder vorbereitet, um vertieft mit den Europa-Abgeordneten zu arbeiten», bemerkt der Anwalt.
Überdies war das Europa-Parlament im Gegensatz zu den Staaten immer für eine rasche europäische Integration. «Man muss sich also auf grösseren Druck bei der europäischen Reglementierung gefasst machen, vor allem in den Bereichen Asyl, Migration und Rechtszusammenarbeit. Die Schweiz wird das nicht ignorieren können, denn sie gehört zum Schengenraum und hat die Dublin-Konvention gutgeheissen. Das bedeutet viel Europa für die Schweiz, vielleicht zu viel.»
Abgesehen vom Europa-Parlament und der Europäischen Kommission (dessen Mitglieder in den kommenden Wochen erneuert werden) wird sich die Schweiz auch mit den zwei neuen Akteuren auseinandersetzen müssen, die am Donnerstag bestimmt werden sollen: dem ständigen EU-Ratspräsidenten und dem Chef der gemeinsamen Diplomatie, dem «EU-Aussenminister».
«Die Schweiz wird den Ratspräsidenten nicht ignorieren können, auch wenn sein Amtsantritt ohne grosse Auswirkung auf die Machtbefugnisse der anderen Institutionen bleiben wird. Es schafft einen obligatorischen Kontakt mehr, neben den alternierenden Präsidentschaften der sektoriellen Ministerräte, des Parlamentes und der Kommission.»
Drei Institutionen, deren Arbeitsmethoden zweifellos auf eine Art umgekrempelt werden, die für die Schweiz wenig günstig sind.
Allein gegen Einheitsfront
Laut Jean Russotto könnte all dies den Entscheidungsprozess innerhalb der Union «langsamer und komplexer» machen. Er befürchtet, dass zahlreiche Dossiers, welche für Bern interessant sind, für «lange Zeit pendent» bleiben werden. Zudem werde die Annäherung der Schweiz an die EU «mit Sicherheit komplizierter».
Es sei in der Tat unausweichlich, dass die institutionelle Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Aussenpolitik enger werde, was die Schweiz einer «geeinteren Front als früher» aussetze. Bern konnte bisher geschickt «teilen und herrschen». Diese Strategie, «die ihr bislang erlaubte, ihre Interessen wirksam zu wahren», wird künftig schwierig aufrecht zu erhalten sein.
Tanguy Verhoosel, Brüssel, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Französischen: Gaby Ochsenbein)
Die 27 EU-Mitgliedstaaten hätten langsam genug von den Sonderwünschen der Schweiz, sagte die Schweizer Aussenministerin Micheline Calmy-Rey an einer Konferenz des Europäischen Instituts Genf.
«Der Weg der Bilateralen ist nicht mit Rosenblättern gesäumt. Er wird zunehmend komplexer, und wir nehmen das Risiko in Kauf, uns in Details zu verlieren und nicht mehr das Ganze zu sehen», sagte sie weiter.
«Noch haben wir die Möglichkeit, unsere Interessen zu verteidigen. Aber die Dinge ändern sich schnell», warnte sie.
Das aussenpolitische Handeln der EU braucht mehr Kohärenz. Aus diesem Grund sieht der Entwurf des Verfassungsvertrags die Schaffung eines «Europäischen Aussenministers» vor.
Dieser soll sowohl die Position des Hohen Repräsentanten des Rates (derzeit der Spanier Javier Solana) als auch die des Aussenkommissars (derzeit die Österreicherin Benita Ferrero-Waldner) vereinen.
Den «Europäischen Aussenminister» soll im Rahmen seiner Zuständigkeiten ein Europäischer Auswärtiger Dienst (EAD) unterstützen, der sich aus Beamten der Kommission, des Ratssekretariats und der diplomatischen Dienste der Mitgliedstaaten zusammensetzt.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch